Schlagwort-Archiv: Russland

Dresden-Murmansk-Dresden. Die Heimkehr.

17.08.2014

Es ist ein seltsames Gefühl. Wieder zu Hause. Nach neun Wochen. Und es ist ein gutes Gefühl. Die Rückreise verlief unspektakulär. Es schien kein nennenswertes Wasser mehr im Motor zu sein. Eine längere Instandsetzung ist dennoch nötig. Der Verschleiß war hoch. Die Reise auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk hat dem Material alles abverlangt. Fast neuntausend Kilometer standen zum Schluss auf dem Tacho.

Es waren aufregende und anstrengende Wochen. Manches Mal habe ich mich unterwegs gefragt, ob es denn eine gute Idee war, diese Tour zu machen. Jetzt, eine Woche nach der Rückkehr, bin ich mir sicher, dass es gut war. Und ich werde wieder dorthin fahren. Nicht mit dem Motorrad, zumindest nicht mit der URAL. Die ist mittlerweile doch zu betagt.

Der Alltag hat mich noch nicht wieder eingeholt. Mein Sabbatical endet am 31. August. Noch ein paar Tage Zeit, die Gedanken zu sortieren, noch einmal durchzuatmen.

Hier noch einmal die Karte der gesamten Tour. Wer nocheinmal wissen möchte, wie alles begann, kann hier klicken.

 

URAL connects people

08.08.2014

Morgen geht es endgültig nach Hause. Eigentlich wollte ich drei Tage vor der endgültigen Heimfahrt (also am Mittwoch) nur ein paar Kleinigkeiten an der URAL erledigen. Schrauben nachziehen, Öl auffüllen, alles solche Dinge. Und ich erlebe ein Desaster. Der Anlasser gibt nur ein klägliches Klicken von sich. Batterie runter? Wäre nicht schön aber eigentlich noch keine Katastrophe. Zum Glück habe ich ja einen Kickstarter. Los geht’s und es passiert-nichts. Der Motor lässt sich nicht mal durchdrehen. Mir wird erstmal ganz anders. Also Kerzen rausschrauben und noch einmal versuchen. Aus dem linken Kerzenloch kommt eine fingerdicke Wasserfontäne. Aus der rechten Öffnung quillt es nicht so stark, aber immerhin auch. Ja, Wasser. Ich bin fassungslos. Am Vortag und in der Nacht hatte es durchgängig geregnet und das Motorrad stand leicht schräg. Die Öffnung für den Luftfilter zeigt bei der URAL nach oben. Und das ist eine, gelinde gesagt, dämliche Lösung. Das Wasser ist bis zum Zylinderkopf durchgelaufen. Und nun? Und nun habe ich erstmal schlechte Laune. Hilft aber auch nicht weiter. Also ran an die Arbeit. In der Wald- und Wiesenwerkstatt Zylinder ziehen habe ich vorher auch noch nicht gemacht.

Russische Feldschmieder

Russische Feldschmiede

Aber was bleibt mir übrig. Ich versuche, die Wasser-Öl-Emulsion so gut wie es geht zu entfernen. Es ist eine einzige Schweinerei.

Begeisterung pur

Begeisterung pur

Danach Vergaser reinigen, Luftfilter reinigen. Ich bin total begeistert. Am Abend habe ich alles wieder zusammen. Fremdstartkabel ans Auto und los. Nur anspringen will das Gerät nicht. Ein paar müde Huster, dann wieder Stille. Ich beschließe, auch im Interesse der Nachbarn, alles Weitere auf Donnerstag zu vertagen.

Der Donnerstag beginnt mit einer nochmaligen Ventileinstellung, einer weiteren Vergaserreinigung und einer zusätzlichen Reinigung und Trocknung des Luftfilters. Gegen Mittag läuft sie endlich, wenn auch noch nicht rund. Zumindest kriegt sie soweit Temperatur, dass ich das Öl komplett ablassen kann. Die Brühe, die dann rauskommt, sieht aus wie Milchkaffee. Gekostet habe ich nicht. Dann erstmal mit dem Auto zur Tankstelle, noch eine Ladung Öl holen. Es wird nicht der letzte Ölwechsel sein. Inzwischen ist es wieder Abend. Noch einen Ausflug zur Eisengießerei in der Nähe. Nein, keine URAL-Teile besorgen. Ebbemala Bruk ist eine alte Gießerei aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dort gibt es heute „historisches“ Schaugießen. Sehr anschaulich, man kommt wenigstens mal auf andere Gedanken. Es ist schon ärgerlich, die Urlaubstage mit Fehlersuche zuzubringen. Am Abend noch eine, diesmal angenehme, Überraschung. In der Nachbarschaft wohnt ein schwedischer Dneprfahrer. Er ist auf meine URAL aufmerksam geworden. Und bietet an, auf seinem Grundstück, einer alten Schule, weiterzuschrauben. Allemal besser als auf der Wiese…

Der Freitag beginnt wie der Donnerstag. Doch es gibt einen Fortschritt. Das Problem lässt sich auf einen Zylinder eingrenzen. Dummerweise ist es der auf der Beiwagenseite, wo man „gut“ rankommt. Die URAL läuft nur bei gezogenem Choke rund. Also weiter mit den Vergaserstudien. Aber erstmal noch ein Ölwechsel, um den letzten Öl-Wasser-Schlamm loszuwerden. Tommy, so heißt der schwedische Nachbar, hat einen Kumpel aus Litauen, der sich gut mit den russischen Geräten auskennt, wie sich herausstellt. Alles Öl nochmal raus und einen halben Liter Diesel eingefüllt. Damit wird der Motor „kalt“ durchgedreht und die Restbrühe wieder abgelassen. Nochmal neues Öl drauf, jetzt sollte es gehen. Der Vergaser gibt mehr Rätsel auf. Am Ende bauen wir ihn komplett auseinander, reinigen ihn mit Druckluft und wechseln zur Sicherheit noch die Membran. Und dann…geht’s! Na bitte! Es gibt noch Kaffee und belegte Brote von Karin, Tommys Frau. Die beiden leben in dieser alten Schule, um, wie sie sagen, ein etwas langsameres Leben zu führen. Er tischlert Möbel und sie malt Bilder. Alles in beschaulicher Umgebung zwischen Wäldern und Seen. Ja, so kann’s laufen. Morgen geht’s auf der URAL zurück nach Dresden. Von Murmansk. Auf drei Rädern und nicht auf dem Anhänger. Die letzten von fast neuntausend Kilometern. Nach neun Wochen werde ich wieder daheim sein.

„Es wird mittlerweile als erwiesen angesehen.“

Dieser Satz begegnet mir in Variationen in den Medien täglich mehrmals. Und ich mag ihn mittlerweile nicht mehr lesen noch hören. Worum geht es? In der Ukraine, also in Europa, tobt ein Bürgerkrieg. Ein Krieg, dessen Ursachen lange zurückliegen. Nicht erst die Ereignisse auf dem MAIDAN haben ihn verursacht und auch nicht die „kalte“ Annexion der Krim durch Russland. Dies waren höchstens die Auslöser. Wer verstehen will, warum die Kriegsparteien aufeinander einschlagen, muss bis in die Zeit der Sowjetunion zurückgehen und ebenfalls die Jahre unmittelbar nach ihren Zerfall betrachten – siehe „Stalins Erben und die Arroganz der Sieger“. Die Situation in der Ukraine ist, nach allem, was man in den Medien erfährt, eine Katastrophe, in allererster Linie für die Bevölkerung. Die Separatisten kämpfen, die ukrainische Armee kämpft, und zwischendrin versuchen Menschen zu überleben, die dort einfach nicht mehr weg können. Und das Überleben scheint von Tag zu Tag schwerer zu werden. Mit dem Abschuss der malaysischen Boeing – wer auch immer diesen Abschuss zu verantworten hat- sollte auch dem letzten Ignoranten klar geworden sein, dass dies kein Konflikt von regionaler Bedeutung mehr ist. Die direkten Kriegsparteien können sich wohl nicht mehr einigen. Zuviel Unvorstellbares ist auf beiden Seiten passiert. Dieser Konflikt kann nur noch von außen beendet werden. Durch eine Einigung des Westen, in diesem Falle der EU und der USA auf der einen Seite und Russlands auf der anderen. Und hier wird aus meiner Sicht ein unverantwortliches Spiel gespielt- von beiden Seiten. Seit Monaten hört man nichts Anderes als Schuldzuweisungen und Drohungen. Der Westen verhängt Sanktionen und die russische Regierung kontert mit der Erhöhung der Energiepreise. Wenn nicht soviele Menschen darunter leiden würden und soviel europäische Zukunft auf dem Spiel stehen würde, könnte man fast darüber lachen. Es erinnert mich an eine Geschichte aus meinem Lesebuch der ersten Klasse – „Die zwei kleinen Ziegenböcke“. Am Ende lagen beide im Wasser.

Ja, Russland hat riesige Demokratiedefizite. Siebzig Jahre Sowjetmacht stalinistischer Prägung waren ein Fluch und ein Albtraum für dieses Land. Es wird noch lange brauchen, um diese Zeit wirtschaftlich und gesellschaftlich zu überwinden. Zu groß ist noch die Überzeugung, dass das Ende der Sowjetunion und der damit verbundene Verlust des Supermachtstatus‘ ein historisches Unrecht ist. Ich habe sie in Sankt Petersburg, in Archangelsk, in Murmansk gesehen, die Parolen „Danke, Großvater für den Sieg!“ An Autos von jungen Menschen, deren Großväter im Krieg wahrscheinlich selbst noch Kinder waren. Hier entsteht, oder existiert wahrscheinlich schon, eine gefährliche Bunkermentalität. Wir gegen die. Und der Westen tut viel dafür. Ich denke, das System Putin ist für Russland auf Dauer nicht gut. Aber das Verhalten des Westens, seine Politik, seine Medien arbeiten ihm zu. Russland wird mit Schuldzuweisungen überhäuft, Beweise werden angekündigt und bleiben dann aus. „Es wird mittlerweise als erwiesen angesehen!“ Ist es erwiesen oder nicht? Der Abschuss eines Passagierflugzeuges ist eine Katastrophe, die man sich als Nichtbetroffener wohl kaum vorstellen kann. Und wenn es aus Kalkül geschieht, ein ungeheuerliches Verbrechen. Bevor man allerdings jemanden eines derartigen Verbrechens bezichtigt, sollte man Argumente, sprich Beweise, haben. Das Verbrechen ohne Beweise zu instrumentalisieren ist moralisch fragwürdig. Niemand reagiert gelassen, wenn er mit einem derartigen Vorwurf konfrontiert wird. Die ZEIT geht hier, wie so oft, wieder einmal mit „gutem“ Beispiel voran. „Der Krieg wird nicht am Absturzort entschieden“– so der Titel eines Kommentares von CARSTEN LUTHER vom 31.07.2014.

ZITAT: Doch parallel zu den territorialen Verlusten wird die militärische Ausstattung der Rebellen besser. Nur so konnte es zum Abschuss des Malaysia-Airlines-Passagierflugzeugs kommen. ZITATENDE.

Es steht also bereits fest, zumindest für Herrn Luther, wer hier der Verbrecher ist. Demgegenüber meldet die FAZ am 02.08.2014 dass Ermittler aus den Niederlanden und Australien am Absturzort nach Ursachen suchen. Vielleicht sollte Herr Luther sein Wissen den Ermittlern zur Verfügung stellen.

Zugegeben, die ukrainische Armee geht auch nicht gerade zimperlich vor, wie der ZEIT-Artikel festhält:

ZITAT: Human Rights Watch macht auch der ukrainischen Armee Vorwürfe: Sie habe wenig präzise Grad-Raketen (die aber ebenfalls von den Separatisten eingesetzt werden) in dicht bewohnten Gebieten eingesetzt. Die Organisation spricht von Kriegsverbrechen. ZITATENDE.

Aber das geht für Herrn Luther völlig in Ordnung:

ZITAT: Die zusammengewürfelten und teils schlecht ausgebildeten ukrainischen Truppen kämpfen mit allem, was ihnen zur Verfügung steht. ZITATENDE.

Denn sie haben ja keine Wahl:

ZITAT: Mit jedem Raketenwerfer, jeder Kiste Munition, jedem Kämpfer, der von russischer Seite über die Grenze ins Land gelangt, hat die Ukraine immer weniger die Wahl: Sie muss ihre Militäroffensive gegen die Separatisten im Osten fortsetzen. Denn Russland ist offenbar nicht bereit, irgendetwas zu unternehmen, um den Nachschub für die Milizen zu unterbinden oder sich auch nur von ihnen deutlich zu distanzieren. ZITATENDE

Auch hier werden die alten Vorwürfe ohne jeden Beleg wiederholt. Um es einmal noch einmal klarzustellen: wenn Russland die Separatisten unterstützt, ist die internationale Gemeinschaft gefordert dies zu unterbinden. Genauso wie sie dann gefordert ist, das Vorgehen der ukrainischen Armee und der Nationalgarde zu stoppen. Die Vorwürfe müssen allerdings belegt werden, sonst wird genau das Gegenteil erreicht. Jede Seite fühlt sich im Recht und ermutigt, weiter zu machen. Und inzwischen sterben Menschen für perverse Machtspiele aller beteiligten Parteien. Mit Artikeln wie dem oben zitierten leisten die Medien der Eskalation Vorschub. Wir haben Meinungsfreiheit. Solange keine Gesetze verletzt werden, darf jeder schreiben, was er will. Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass niemand per se die Deutungshoheit über Ereignisse beanspruchen kann. Behauptung statt Argumentation als Stilmittel? Behauptungen sollte man im eigenen, journalistischen, Interesse belegen können. Es ist mittlerweile als erwiesen anzusehen, dass Teile der deutschen Medienlandschaft ein massives Glaubwürdigkeitsproblem haben. Und das ist für eine demokratische Gesellschaft, die wir trotz aller Schwierigkeiten sind, niemals gut.

 

Vorläufiges Finale

Ich bin angekommen. Bei den drei wichtigsten Menschen, die es für mich gibt. Ein Ferienhaus in Bleckinge län, in Südschweden. Hier klingt die Reise auf der URAL von Dresden nach Murmansk und zurück erst einmal aus, bevor es zurück nach Dresden geht. Die letzten Tage seit Uppsala waren Motorradfahren pur. Ich habe noch eine Zeltplatzbetreiberin aus der Schweiz getroffen, die sich in Schweden einen Lebenstraum erfüllt, Autoschrauber aus Hamburg, die mit ihren amerikanischen Oldtimern auf Tour sind und jede Menge andere freundliche und hilfsbereite Menschen. Die Zeltplatzbetreiberin war geschäftstüchtig genug, mir um Mitternacht noch Bier zu verkaufen und von den Schraubern habe ich gelernt, dass ein Verbrauch von zwölf Litern auf hundert Kilometer geradezu sparsam ist. Wenn man einen Motor von sechs Litern Hubraum hat… Ein wenig Fachsimpeln über amerikanische und russische Autos, da kommt man schon ins Träumen. Die URAL hat sich auf der Reise anständig gehalten. Wenn man von den Zündungsproblemen absieht, die ich mit „Bordmitteln“ beheben konnte, lief die Maschine störungsfrei. Und dass über achttausend Kilometer, die mitunter nicht so ganz einfach waren. Russische Straßen sind doch etwas Besonderes. Noch ein paar Worte zur Technik. Ich war mit einem 750cm³-URAL-Gespann unterwegs, welches ich im Jahre 2001 in Deutschland gekauft habe, damals fabrikneu. Außer dem Anbau eines Ölkühlers und einer leistungsstärkeren Ölpumpe habe ich technisch nichts verändert. All die Geschichten über das unabdingbare Austauschen aller russischen Lager und ähnlichen Horror habe ich ignoriert. Mittlerweile hat die URAL knapp sechzigtausend Kilometer „auf der Uhr“ und ein Ende ist nicht abzusehen. Reisen haben mich damit nach Skandinavien (2004), nach Sibirien (2008) und jetzt nach Murmansk geführt. Sicher gab es Pannen und sicher mussten auch einmal Teile (vorzeitig) getauscht werden. Aber Motor, Getriebe und Kupplung sind original. Der Ölverbrauch liegt im Rahmen. Wenn ich darüber nachdenke, was mir über die Jahre an technischem Ungemach vorhergesagt wurde, finde ich die bisherige Laufleistung recht akzeptabel. In Russland selbst war die Maschine immer wieder ein „Hingucker“. Ich wurde oft darauf angesprochen und oft sehr anerkennend. Es ist klar, dass es weitaus bessere Technik gibt aber hier zählte wohl der Symbolwert. Die bisher zurückgelegt Strecke gibt es unter diesem Link. Noch einmal Atem holen vor dem letzten Ritt auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk – und zurück. Auch das Sabbatical geht zu Ende. Im September werde ich wieder arbeiten gehen.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk – Ende

„Guten Tag!“ Ich bin kurz erstaunt, dass ich deutsch angesprochen werde. Ich bin es kaum noch gewohnt. Die norwegische Grenzfrau lächelt freundlich. Russland liegt hinter mir. Zweihundert Kilometer trennen mich jetzt von Murmansk. Zweihundert Kilometer durch subarktische Einsamkeit. Niedriges Buschwerk, Felsen und kleine Seen, mehr war nicht. Kaum Ortschaften. Kasernen und Militäranlagen, ja. Irgendwann der Schlagbaum, mitten im Nirgendwo. Kirkenes, der russisch-norwegische Grenzort. Fünfeinhalb Wochen durch Osteuropa liegen hinter mir. Fünfeinhalb Wochen und über sechstausend Kilometer auf der URAL. Die Reise auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk ist endgültig Geschichte. Nach kaum zwanzig Minuten stehe ich auf der anderen Seite des Schlagbaums und habe das Gefühl, wieder in meiner Welt angekommen zu sein. Was bleibt? Russland ist anders, anders als Deutschland, anders auch als Polen und das Baltikum. Es ist schwer zu beschreiben. Die kyrillische Schrift trägt ihren Teil dazu bei. Die Straßen sind teilweise ein Albtraum. Die Städte und Dörfer sind nach unseren Maßstäben heruntergekommen, die Industriebetriebe üble Dreckschleudern. Und doch fasziniert mich dieses riesige Land immer wieder auf’s Neue. Die Menschen, die auf den ersten Blick verschlossen wirken, sind oft hilfsbereit und freundlich. Ich hab es häufig erst gespürt, als ich Probleme hatte. „Brauchst Du Hilfe?“ wurde ich oft gefragt, wenn ich am Straßenrand versucht habe, die URAL wieder in Gang zu kriegen. Klar spreche ich ein wenig russisch aber ich bin doch ein Fremder. Und ich habe hier deswegen nicht einmal Ablehnung erfahren. Im Gegenteil. Ich wurde gefragt, wo ich herkomme, wo ich hin will und auch, ob es mir in Russland gefällt. Smalltalk, sicherlich und trotzdem tut es manchmal gut. Das Land befindet sich in einem Umbruch, denke ich. Seit meiner letzten Reise ist es wesentlich offener geworden. Formalitäten an der Grenze waren nicht mehr so kompliziert wie vor sechs Jahren. Das fast schon paranoide Meldewesen für Ausländer ist drastisch gelockert worden. Riesige Straßenbaustellen, auf denen gearbeitet wird. Die Reise war erstaunlich unkompliziert. Alles hat problemlos funktioniert. Und ich habe interessante, freundliche und großzügige Menschen kennengelernt. Man kann in diesem Land reisen, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen. Und zu dieser Akzeptanz gehört auch die Bereitschaft, die westliche Brille abzulegen. Zu akzeptieren, dass es eine andere Sichtweise auf die jüngere Geschichte gibt. Die Ukrainekrise liegt wie ein Schatten auf diesem Land. Fernsehgeräte sind allgegenwärtig, in Läden, in den kleinen Cafes, in Hotelrezeptionen. Der Krieg in der Ukraine ist präsent. Und dann trifft man auf Menschen, die überhaupt nicht dem Klischee des nationalistischen, propagandaabhängigen Durchschnittsrussen entsprechen und diese Menschen haben auf die Dinge eine völlig andere Sichtweise, als uns unsere Mainstreammedien verordnen. Man muss ihre Sichtweise nicht übernehmen aber über einige Dinge darf man ruhig einmal nachdenken. Ja, wir sind im Westen oft weiter und moderner. Unsere Infrastruktur ist besser und unser Lebensstandard insgesamt höher. Aber daraus leitet sich kein Anspruch auf Überlegenheit ab, wozu man im Westen nicht selten neigt. Wenn man die Selbstverständlichkeit schafft, die Menschen auf Augenhöhe zu sehen, kann man dort eine wunderbare Zeit haben. Ich war nur kurz hier und möchte mir nicht anmaßen, Russland zu verstehen. Manche Dinge werden mir ewig fremd bleiben. Der aus unserer Sicht sehr unkritische Umgang mit der Vergangenheit gehört dazu. Der Kommunismus war ein Fluch für dieses Land und dennoch sind Leninstatuen allgegenwärtig. Und dennoch, ich glaube, dass sich dieses Land modernisiert. Russland ist viel mehr europäisch als asiatisch.

до свида́ния Росси́я

Brotauto

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XVII

13.07.2014

Es ist kaum Verkehr auf den Straßen. Kaum zu glauben, aber hier ist wirklich Sonntag. Kein Vergleich zu Sankt Petersburg und auch zu Archangelsk. Es geht geruhsam zu. Die meisten Geschäfte haben geschlossen. Ich mache mich auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Murmansk ist eine Industrie- und Hafenstadt. Sozialistische Hochhaussiedlungen auf den umliegenden Hügeln blicken auf den am Fjord gelegenen Hafen herab. Tourismus ist hier offensichtlich nicht vorgesehen. Aber jetzt, im Polarsommer, empfängt mich die Stadt offen und freundlich. Erinnerungen an Archangelsk kommen auf, obwohl hier scheinbar alles eine Nummer größer dimensioniert ist. Auch hier die Bauten der Sowjetzeiten, dazwischen vereinzelte alte Holzhäuser und die Glas- und Stahlbetonkathedralen der postsowjetischen Realität. Mein alter Bekannter, Herr Uljanow, blickt von einigen Stellen autoritär in die Runde.

Gruß aus einer anderen zeit

Gruß aus einer anderen Zeit

Murmansk ist eine Heldenstadt. Diese Auszeichnung bekamen Städte, in denen in Krieg besonders schwere Kämpfe stattfanden. Über den eisfreien Hafen erhielt die Sowjetunion große Teile der amerikanischen und britischen Rüstungslieferungen. Entsprechend umkämpft war dieser Ort. Es gelang den deutschen und finnischen Truppen jedoch nie, Murmansk einzunehmen und diese wichtige Nachschublinie zu unterbrechen. Der Rückblick auf den Krieg ist auch heute noch allgegenwärtig in Murmansk. Weit über der Stadt auf einem Berg steht die riesige Statue eines Sowjetsoldaten, der die gesamte Stadt überblickt. Ich mache mich auf den Weg, den Soldaten zu besuchen. Zu meinem Glück geht die Trolleybuslinie 4 bis direkt dorthin.

ÖPNV am Rande der Arktis

ÖPNV am Rande der Arktis

Das Nahverkehrssystem scheint vorbildlich, obwohl die Busse wohl schon bessere Tage gesehen haben. Aber sie fahren im Fünfminutentakt und sind mit umgerechnet vierzig Cent für eine Fahrt preislich unschlagbar. Obern auf dem Berg ist erstmal Volksfest. Der Ort scheint ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflügler zu sein. Musik, Rummel und Schaschlykstände. Die Schaschlykstände sind hier wohl das, was in Deutschland die Bratwurstbuden sind.

Schaschlyk geht immer

Schaschlyk geht immer

Ich kann mich dem Duft nicht entziehen. Dazu ein frischgezapftes Bier. Ringsum entspannte Menschen. Familien mit Kindern, Cliquen von Jugendlichen, Rentner, alle sind da. Eine gelöste Atmosphäre. Nach dem ich den See umrundet habe, auf dem zahllose Ruderboote fahren, bin an der Statue und der ewigen Flamme.

Der Soldat über Murmansk

Der Soldat über Murmansk

Auch hier werden der feierliche Ernst und die Strenge der Stätte durch herumtobenden Kinder auf eine sehr schöne Weise relativiert. Vergangenheit und Zukunft durchdringen sich. Wie selbstverständlich tummeln sich die Kinder auf den hier zur Erinnerung aufgestellten Geschützen aus Kriegszeiten.

Vergangenheit und Zukunft

Vergangenheit und Zukunft

Der Soldat schaut in die Ferne, nach Westen. Der Ausblick auf Murmansk ist überwältigend. Stadt und Hafen liegen mir zu Füßen.

Ausblick

Ausblick

Im Hafen sehe ich die „Lenin“ liegen. Das Schiff war der weltweit erste Atomeisbrecher und liegt heute hier als Museum. Ich mache mich auf den Rückweg. Touristisch ist Murmansk kein Hotspot aber es tut gut, nach den Tagen am Onegasee und den Nächten unterwegs wieder städtische Atmosphäre zu geniessen. Die Nacht wird kurz, da auch das russische Fernsehen das Finale aus Brasilien überträgt. Es ist ein Moment, an dem ich gern zu Hause gewesen wäre, um das Match in Gesellschaft zu genießen. Und ich freue mich für die deutsche Mannschaft, dass sie diesen Glanzpunkt setzen kann.

14.07.2014

„Museum nie rabotajet?“ frage ich einen Mann in blauer Arbeitskombi. Ich stehe vor dem Atomeisbrecher und wundere mich über die Absperrung. Er murmelt etwas, was ich nicht richtig verstehe und deutet auf die Hinweistafel. Montag und Dienstag ist das Museum geschlossen. Verdammt ärgerlich. Es wäre die einmalige Chance gewesen, dieses legendäre Schiff zu besichtigen.

Der Atomeisbrecher

Der Atomeisbrecher

Ich bin kein Seefahrtsfanatiker aber das hätte ich gern gesehen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein nächstes Mal gibt. Schweren Herzens mache ich noch ein paar Bilder und verlasse den Schauplatz. Der Tag vergeht mit Reisevorbereitungen. Lebensmittel einkaufen und die URAL noch mal „streicheln“. Die Reise auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk ist Geschichte. Morgen steht die endgültig letzte Etappe auf russischem Boden an. Ziel ist das norwegische Kirkenes. Danach geht es nach Hause. Was von Murmansk bleibt, ist der Eindruck einer modernen, lebendigen Stadt, die fest in der Gegenwart steht und ihre Vergangenheit lebendig hält.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XVI

Ein kurzer Rückblick…

12. Juli

Ich würde mir auch kein Zimmer geben. Verdreckt, zerstochen und unrasiert stehe ich an der Hotelrezeption in Murmansk. Die Frau hinter dem Tresen schaut skeptisch, zu Recht. Ich glaube, verwahrlost umschreibt meinen Zustand ganz gut. Meine letzte Dusche hatte ich vier Tage zuvor in Medveshegorsk. Zum Glück habe eine Reservierung. Medveshegorsk ist im Wesentlichen ein Eisenbahnknotenpunkt mit einer kleinen Stadt drum herum. Dem Hotel dort konnte ich nicht widerstehen, der Gedanke einen geruhsamen Fußballabend mit Chips, Bier und Halbfinale war zu stark. Hat sich aber auch gelohnt. Am nächsten Morgen nehme ich dann die letzten 700km bis Murmansk in Angriff. Die M18 führt schnurgerade nach Norden. Die Orte liegen weit auseinander. Fahren, fahren, fahren. Die Gegend ist alles andere als abwechslungsreich. Abends wird es schwierig, ein Nachtlager zu finden. Links und rechts der Straße erstreckt sich Sumpf.

Kein Zeltplatz

Kein Zeltplatz

Am Ende findet sich jedoch etwas. Die sonst sehr gute Straße ist an dieser Stelle eine gigantische Baustelle. Die Tankstellen werden gewöhnungsbedürftig.

Tanken im Nirgendwo

Tanken im Nirgendwo

Fahren, Kilometer fressen. Wald und Sumpf. Irgendwann dann der Polarkreis.

Am Polarkreis

Am Polarkreis

Ein kurzer Plausch mit russischen Motorradfahrern. Die M18 scheint eine beliebte Strecke zu sein. Fahren… Unterwegs noch der fällige Ölwechsel.

Kola-Halbinsel

Kola-Halbinsel

Fünftausend Kilometer bin ich schon unterwegs. Die Berge der Kola-Halbinsel kommen in Sicht. Die Landschaft wird zusehends karger. Und dreckiger. Die gigantische subarktische Landschaft mit ihren Flüssen und Seen inmitten niedriger Vegetation und schneebedeckten Bergen wird von völlig verwüsteten Arealen unterbrochen. Schornsteine vernebeln die Gegend. Es stinkt zum Himmel. In der Gegend um Montschegorsk, wo Nickel angebaut wird, ist es fast unerträglich. Eine übelriechende, apokalyptisch aussehende Mondlandschaft.

Mondlandschaft bei Montschegorsk

Mondlandschaft bei Montschegorsk

Wie in einem schlechten Film überfliegt noch ein Jagdbomber die Szenerie. Bodenschätze und Militärstützpunkte, damit ist die Bedeutung der Kola-Halbinsel umrissen. Der Wechsel von unberührt scheinender Waldlandschaft in diesen Albtraum ist erschütternd. Ich möchte nur noch schnell durch. Hinter Montschegorsk wird es besser.

Am letzten Tag macht die URAL auf einmal richtige Probleme. Unrunder Motorlauf, kein Zug mehr in den oberen Drehzahlbereichen. Diesmal sind alle Kontakte so, wie sie sein müssen. Hier scheint es ein ernsthaftes Problem zu geben. Ich tausche die Zündspule, da ich hoffe, dass das Problem aus dieser Richtung kommt. Es bringt nichts. Es gibt noch eine Chance. Ich wechsel das Zündmodul. Es funktioniert. Allerdings habe ich keine Ersatzteile mehr. Das Zeug muss jetzt dreitausend Kilometer halten. Es sind nur noch dreißig Kilometer bis Murmansk. Irgendwann bin ich da. Wie gesagt, leicht verwahrlost. So eine Dusche ist eine klasse Erfindung. Der Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk ist geschafft.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XIII

02.07.2014

Der Himmel wird immer dunkler und die Straße zumindest nicht besser. Ich bin irgendwo zwischen Archangelsk und Plesezk. Seit vielen Kilometern eine üble, unbefestigte Piste. Sogar die Russen fahren hier langsam und das ist ein echtes Indiz. Endlich ein Platz neben der Straße, an dem man bleiben kann. Blitze zucken und die Zeit bis zum einsetzenden Donner ist extrem kurz. Ich habe gerade das Zelt aufgebaut, da bricht es los. Ich flüchte mich erstmal unter die Brücke. Der Wind drückt das Zelt flach auf den Boden. Das war Timing! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, ich säße jetzt noch im Sattel. Nach fünfundvierzig Minuten ist der Spuk vorbei und es wird eine ruhige Nacht.

03.07.2014

Es klingt nicht gut. Und es fühlt sich noch schlechter an. Die URAL ist unwillig. Unrunder Lauf im oberen Drehzahlbereich, das Ding nimmt kein Gas an. Ich bin bedient. Erstmal Fehlersuche. Mein erster Gedanke gilt den Vergasern, da im Standbetrieb alles in Ordnung zu sein scheint. Also aufschrauben, Düsen reinigen, zusammensetzen. Leider bringt das nicht das gewünschte Resultat. Weiter, Zündung. Funkenprobe ist eigentlich gut, ich sollte mal über den Zündzeitpunkt nachdenken. Inzwischen haben sich zwei Zuschauer eingefunden. Ein russisches Pärchen, bei dem anregende Getränke Grundnahrungsmittel zu sein scheinen und Körperpflege offensichtlich nur ein sehr sporadisches Hobby ist. Normalerweise bin ich Gesprächen nicht abgeneigt, aber die Einladung dieser beiden zu sich Hause, anzunehmen, erscheint mir keine gute Idee. Ich erkläre es ihnen sehr deutlich. Sie lassen nicht locker. Ich komme hier zu gar nichts mehr. Genervt packe ich mein Zeug zusammen. Das verstehen die zwei völlig falsch. In Nullkommanichts hocken sie auf der URAL. Ich bin kurz davor, die Contenance zu verlieren und werde etwas lauter. Endlich begriffen! Nichts wie weg, obwohl ich den Fehler immer noch nicht gefunden habe. Ich rette mich mit der ruckelnden Maschine erstmal in den Ort, nach Plesezk.

Plessezk

Plessezk

Ich brauche einen Kreuzschraubenzieher, den ich nicht mit habe. Die einzigen beiden Kreuzschrauben am Vehikel sind die am Zündmodul unter der Abdeckkappe. Habe ich in Dresden nicht eine Sekunde drüber nachgedacht. Gottseidank gibt’s in Russland alles, womit sich Geld verdienen lässt, also auch Instrumenty, Werkzeug. Der passende Laden ist schnell gefunden und ich suche mir wieder ein Fleckchen, an dem ich ungestört basteln kann.

Straßenwerkstatt

Straßenwerkstatt

Und dann habe ich es. Ein simpler Wackelkontakt an der Zündspule. So halb dran und doch kein richtiger Kontakt. Es geht wieder weiter. Ich fahre noch 200 km entlang des Flusses Onega bis Kargopol. Die Stelle zum Zelten kenne ich ja bereits. Zum Glück schneit es diesmal nicht. Die Mücken freuen sich auch über das Wiedersehen.

04.07.2014

„Da, koneshno!“ Die alte Dame am Glockenturm nickt auf meine Frage, ob man das Bauwerk besichtigen dürfe. Gegen einen kleinen Obolus von sechzig Rubeln ist das kein Problem. Ich möchte wissen, ob Kargopol außer Schnee und Regen noch etwas zu bieten hat. Klar, ein alter Bekannter und die Kirchen, die mir beim letzten Mal aufgefallen sind.

Mobilfunkvertreter

Mobilfunkvertreter

Die enge Wendeltreppe im Turm bringt mich nach oben. Der Aufgang ist eindeutig nicht für Menschen in Motorradbekleidung gebaut worden. Der Ausblick entschädigt für die Mühen. Kargopol liegt wie auf einer Landkarte unter mir. Die Sicht auf die umliegenden Seen und Wälder ist umwerfend.

Kargopoler Aussichten

Kargopoler Aussichten

Kargopol ist eine der ältesten Städte Nordrusslands. Gegründet wurde der Ort wahrscheinlich um 1150. Lange Zeit eine bedeutende Handelsstadt, verlor Kargopol mit dem Bau der Eisenbahnstrecke Moskau-Archangelsk, die weit am Ort vorbeiführt, letztendlich seine Bedeutung. Übriggeblieben sind elf Kirchen in der traditionellen russischen Bauweise. Obwohl äußerlich renovierungsbedürftig, ist das Innere dieser Bauwerke beeindruckend. Eine riesige Wand voller Ikonen. Die Kunstwerke sind teilweise siebenhundert Jahre alt, wie mir die freundliche Dame am Eingang erklärt. Es ist eine eigenartig mystische Stimmung. Der Innenraum der Kirche ist in Dämmerlicht gehüllt und ich frage mich unwillkürlich, was die diese uralten Kunstwerke im Laufe der Zeit gesehen haben. Ikonen sind typisch für die russisch-orthodoxe Kirche und erscheinen mir wie aus einer anderen Welt.

Ikonen einer fernen Vergangenheit

Ikonen einer fernen Vergangenheit

In ihrer Abstraktheit wirken sie fesselnd und abweisend zugleich. Ich kann mich dem schwer entziehen und lasse es einfach auf mich wirken. Die Religion ist in Russland immer noch tief verwurzelt. Ähnlich wie in Polen sehe ich Menschen jeden Alters die Rituale vollziehen, angefangen vom selbstverständlichen Bekreuzigen beim Betreten und Verlassen der Gebäude. Und es sind auch Menschen, die ihre Ausbildung und Erziehung in sowjetischen Zeiten erhalten haben. Wie kann es sein, dass diese Religiosität nach sieben Jahrzehnten konsequenter Unterdrückung und Negierung wieder derartig auflebt? Oder haben wir im Westen auch hier ein falsches Bild? Ich denke, der Glauben wurde auch zu kommunistischen Zeiten nie völlig aufgegeben, auch wenn ihn viele Menschen aus nachvollziehbaren Gründen verleugneten. Wahrscheinlich haben auch Parteimitglieder insgeheim gebetet. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Und wieder habe ich das Gefühl, dass die kommunistische Zeit für dieses Land ein böser Spuk war, von dem es sich langsam erholt. Diese Erholung dürfte noch Jahrzehnte dauern. Ich verlasse die Kirche und mache mich wieder auf den Weg, den Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Die Erzengel

Die Erzengel

Was mir jetzt bevorsteht, kenne ich von der Hinreise nach Archangelsk. Viele Kilometer unbefestigte Straßen, die ein Martyrium für URAL darstellen. Da müssen wir jetzt durch. Zum Glück hat es etwas geregnet. Das ist jetzt wirklich ein Glück, denn die leicht „angefeuchteten“ Pisten lassen sich besser fahren. Kein Staub mehr und die Bodenwellen sind etwas weicher.

Die Piste hinterlässt Spuren

Die Piste hinterlässt Spuren

Das Motorrad wechselt seine Farbe. Ich glaube, es war ursprünglich mal schwarz. Jetzt hat es so ein undefinierbares Grau. Irgendwann erreiche ich kurz vor Pudosh die Grenze der Republik Karelien, ein autonomes Gebiet innerhalb der Russischen Förderation. In Pudosh noch einmal tanken und dann geht es weiter in Richtung Medveshegorsk. Es ist schon spät und ich übernachte noch einmal bei meinen Lieblingstieren. Deutschland hat das Halbfinale erreicht, erfahre ich noch. Auch schön.

05.07.2013

Wie komme ich hier nur raus? Medveshegorsk gibt mir Rätsel auf. Die Ausschilderung ist sehr reduziert und ich muss die Straße nach Tipinitzy finden. Da will ich hin. Aber wo geht es aus Medveshegorsk raus? Ich sehe nur Schilder für Murmansk und Petrosavodsk. Nach drei Ehrenrunden in der Stadt tue ich das Naheliegende: ich frage. Und schon geht es weiter. Es ist doch manchmal so einfach. Tipinitzy liegt am Ende einer Halbinsel im Onegasee. Ich mache ich auf Unwegsamkeiten gefasst. Nichts dergleichen passiert erst einmal. Gute Straße, teilweise direkt am Ufer des Onegas entlang. Sehr schön. Im letzten Drittel wird es dann allerdings wie erwartet. Der Asphalt ist alle, wiede mal. Es geht auf den sattsam bekannten wilden Pisten weiter. Die karelische Landschaft, Dörfer ziehen vorbei, die manchmal etwas verloren aussehen.

Karelische Aussichten

Karelische Aussichten

Ich frage mich langsam, ob ich das im Internet gebuchte Gästehaus in Tipinitzy wohl vorfinden werde. Egal, das Problem, wenn es denn eines ist, wird sich vor Ort lösen lassen. Zwischendurch regnet es. Dann passiert wieder eine dieser Sachen, die man nicht für möglich hält. Fünfundzwanzig Kilometer vor dem geschätzten Ende der Welt überholt mich ein Volvo mit einem mit Baumaterial beladenen Anhänger. Der Fahrer hat offensichtlich Probleme mit seiner Ladung. Ich überhole noch zwei oder dreimal, wenn er das Zeug wieder neu befestigt. Bei einer dieser Begegnungen hebt er die Hand. Ich halte und wir kommen ins Gespräch. Ob ich nach Tipinitzy wollte? „Da!“ Ins Gästehaus? „Da!“ Es ist der Besitzer ebendieses Gästehauses. Er hätte sich schon gedacht, dass ich sein angekündigter Gast sei, denn soviele Motorräder mit deutschem Kennzeichen gibt es in dieser Gegend nicht. Nun ist mir erstmal die Sorge genommen, dieses Haus zu finden. Wir kämpfen uns gemeinsam weiter. Am Ziel angekommen, entpuppt sich Tipinitzy als typisch russisches Dorf, teils bewohnt, teils verfallen. Das Gästehaus allerdings ist eine Perle. Gemütlich, den Umständen entsprechend komfortabel.

Komfort pur

Komfort pur

Konstantin ist ein Fotograf aus Sankt Petersburg, der aber momentan nicht arbeitet, sondern hier draußen lebt und das Haus vermietet. Kurze Einweisung in alle Örtlichkeiten und dann wird die Banja angeheizt. Konstantin fragt mich noch, ob ich gesund genug für die russische Variante bin. Da mir keine Fehlfunktionen bekannt sind, kann es losgehen. Die russische Sauna, so wird mir erklärt, sei nicht so heiß wie die finnische aber dafür feuchter. Die übliche Massage mit Birkenzweigen gibt es natürlich auch. Zwischendurch Bier und gesalzenen Trockenfisch. Es ist nach den Tagen draußen eine Wohltat. Wir unterhalten uns noch so über dies und jenes. Er erklärt mir, der Anblick des Motorrades mit Beiwagen und deutschem Kennzeichen hätte bei ihm sofort Bilder aus Kriegsfilmen wachgerufen. Dieser Eindruck lag nicht in meiner Absicht aber so scheint es nun mal zu sein. Irgendwann falle ich ins Bett.

06.07.2014

Kischi. Das Museum auf einer Insel im Onegasee. Zu Konstantins touristischem Angebot gehören auch Bootsausflüge dorthin. Das Wetter ist ideal. Sonnenschein und kaum Wind. Wir fahren über einen spiegelglatten Onega. Wir reden weiter. Konstantin, der aus der Nähe von Odessa stammt, scheint sich für dieses einfache Leben hier draußen entschieden zu haben. Seine Familie lebt allerdings in Sankt Petersburg. Nur zeitweise sind seine Frau und seine zwei Kinder hier. Wovon denn die Leute hier leben, will ich noch wissen. Viele sind Pensionäre, erklärt er mir. Dazu kommen ein wenig Tourismus, der Anbau und Verkauf von Kartoffeln und dem, was der Wald so bietet. Beeren, Pilze und natürlich die Jagd. Es wäre allerdings eine sehr ernsthafte Entscheidung so hier leben zu wollen. Nach fünfundvierzig Minuten werden die Kirchen von Kischi am Ufer sichtbar. Was nun folgt, ist eine gigantische Show russischer Holzarchitektur. Es ist ähnlich wie in Malye Koreli, nur um ein vielfaches größer.

Kischi

Kischi

Die Insel ist ungefähr vier Kilometer lang und sehr angenehm gestaltet. Weit auseinandergezogen stehen dort Kirchen und Bauernhäuser aus verschiedenen Epochen und Gegenden. Es ist ein langer Spaziergang in einer wirklich schönen Umgebung. Kischi liegt in einer Bucht des Onega mit vielen Inseln. Man wandert durch die russische Geschichte. Die meisten der Gebäude wurden aus den umliegenden Gemeinden zusammengetragen und in Kischi seit den sechziger Jahren wieder restauriert. Anschaulich werden die Bauweise und auch die verwendeten Zimmermannstechniken erklärt. Aber auch hier liegt der Schatten Stalins. Die eigentliche Kirche Kischis war bis 1937 in Betrieb. Dann die übliche Geschichte. Der damalige Vorsteher wurde vom NKWD, den stalinistischen Sicherheitsorganen, verhaftet, erschossen und die Kirche, die Jahrhunderte existierte, geschlossen, Ende und Sowjetmacht. In Tipinitzy gibt es ein Denkmal für die hiesigen Opfer des Terrors der Jahre 1937 und 1938. Wir wandern mehrere Stunden über die Insel. Nach der Rückfahrt noch ein Bad im Onega, danach Erholung pur. Nochmal Kraft tanken für die letzte Etappe auf der Fahrt von Dresden nach Murmansk. Abendsonne und ein stilles russisches Dorf irgendwo ganz weit weg.

Das Dorf

Das Dorf

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XII

28. Juni

„Das ist Provinz!“ Ich habe noch Tatjanas Worte in Sankt Petersburg im Ohr. Nach Tagen auf der Landstraße freue ich mich auf Leben. Die Abgeschiedenheit dieses Landes hat mich mehr vereinnahmt, als ich vorher annahm. Das Zeitgefühl kommt aus dem Rhythmus. Der Tag zerteilt sich in Tankpausen, sonst nichts. Die Metropole erscheint als Oase. Archangelsk hat auch diese Ausstrahlung der östlichen Städte, die irgendwo zwischen der Vergangenheit und einer undefinierten Zukunft liegt. So, als müsste man zwischen Ost und West eine neue Himmelsrichtung erfinden. Aber anders als Sankt Petersburg, welches in einer Art Dauerlauf zu leben scheint, ist hier alles gelassener. Und dennoch alles andere als tot. Gelassener, wie mir scheint. Die Menschen, denen ich begegne, sind auf eine sympathische Art unaufgeregt. Die Bewegungen, die Gespräche, alles scheint eine Spur geruhsamer zu gehen als in Sankt Petersburg. Und es gibt sie noch, die Kwasverkäufer.

Auf der Strasse

Auf der Strasse

Ich mache mich auf den Weg, diesen Ort zu erkunden. Archangelsk hat seine Geschichte. Lange Zeit war der Ort der nördlichste Hafen von Bedeutung, den Russland hatte. Im Jahre 1584 gegründet, war es die Handelsmetropole jener Zeit in der der Region. Über Archangelsk liefen die ersten Kontakte des russischen Reiches unter Iwan, dem Schrecklichen nach England.

Das alte Archangelsk

Das alte Archangelsk

Englische Seefahrer strandeten 1553 in Archangelsk auf der Suche nach einer von Portugal unabhängigen Seepassage nach Indien. Die Seefahrt prägt das Stadtbild bis heute. Darstellungen von Schiffen sind allgegenwärtig. Auch die Denkmäler der Zeit der Interventionskriege 1918-1920, als Truppen der Entente in Archangelsk landeten, und die allgegenwärtigen Monumente des Zweiten Weltkriegs sind oft Seefahrern gewidmet.

Wir lieben Archangelsk

Wir lieben Archangelsk

Die Architektur der Stadt ist ein Querschnitt aus Stein und Holz durch die Jahrhunderte. Die alten russischen Holzhäuser stehen zwischen monströsen Betonblöcken der Sowjetzeit und der Einheitsarchitektur aus Stahl und Glas der Neuzeit.

Denk mal!

Denk mal!

Ein gewisser Herr Uljanow, bekannter unter seinem Künstlernamen Lenin, beherrscht den zentralen Platz der Stadt.

Der alte Mann

Der alte Mann

Und der vergangene Krieg ist auch hier sehr präsent. Doch Archangelsk lebt. Menschen sind unterwegs, erstaunlich viele junge Familien mit Kindern, im Habitus von ihren westeuropäischen Altersgenossen kaum zu unterscheiden. Skater teilen sich die Uferpromenade mit Radfahrern und Joggern, aus den Restaurants dröhnt der übliche russische Pop. Und über allem liegt eine eigenartige Gelassenheit. Selbst der Verkehr, der hier durch eine schier unendliche Zahl klappriger Busse eines Einheitstyps dominiert wird, scheint erträglich.

Rush Hour

Rush Hour

Die Stadt wirkt einladend. Eine Überraschung erlebe ich beim Einkauf. Die Alkoholabteilung ist abgesperrt. Ein Schild sagt mir, dass an diesem Wochenende jede Sorte von Alkohol nur zwischen zehn und dreizehn Uhr verkauft wird. Der Grund ist der Stadtgeburtstag, der an diesem Wochenende stattfinden soll. Noch ist davon nichts zu sehen. Ich genieße die Mitternachtssonne an der Uferpromenade.

Mitternacht an der Dvina

Mitternacht an der Dvina

29. Juni

Etwas liegt in der Luft. Eigentlich will ich heute ein Stück ins Umland fahren. Aber die Straße vor dem Hotel ist gesperrt. Menschen strömen Richtung Innenstadt. Musik ist zu hören. Keine Zeit für’s Umland, das kann warten. Heute ist die Party zum Stadtgeburtstag. Vierhundertdreißig Jahre Archangelsk und scheinbar ist der ganze Ort auf den Beinen. Gegenüber des Herrn Uljanow ist eine riesige Tribüne aufgebaut. Ich lasse mich mittreiben. Und komme genau zum richtigen Zeitpunkt. Auf der Tribüne werden die Feierlichkeiten offiziell eröffnet. Die Führung der Stadt hält Reden. Der Bürgermeister, die örtliche Duma-Abgeordnete, der Oberhirte, Gäste aus Partnerstädten.

Mit dem Segen von ganz oben

Mit dem Segen von ganz oben

Emden ist die Partnerstadt von Archangelsk, wer hätte das gedacht. Zum Glück fassen sich alle kurz und dann kann es losgehen. Tanzdarbietungen, wie man sie in ihren Dimensionen wahrscheinlich nur im Osten kennt. Die Stadt Archangelsk und ihre Geschichte sind das Thema. Historische Figuren wie Iwan, der Schreckliche und Katharina, die Große betreten die Bühne. Die Geschichte der Stadt rollt musikalisch über die Bühne. Der Platz ist voll. Auf der Uferpromenade ein anderes Bild. Hier laufen die alternativen Darbietungen. Straßenmusiker spielen zwischen Schaschlykständen. Und hier ist wieder Osten. Die Menschen jeden Alters bleiben bei den Gitarrenspielern stehen und singen mit.

Die alernative Party an der Dvina

Die alternative Party an der Dvina

Strassenmusik in Archangelsk, russische Lagerfeuerromatik, Lieder von Aufbruch und Unterwegssein. Offensichtlich sehr populär hier. Der perfekte Tag, auch das Wetter spielt mit. Auffällig ist allerdings, dass oft aus Papiertüten getrunken wird… Offensichtliche Opfer dieser Tüten sehe ich allerdings erstaunlich wenige. Zurück zum Herrn Uljanow. Auf der Bühne läuft das russische Folkloreprogramm. Der traditionelle Gesang der Frauenchöre und halsbrecherische Tanzdarbietungen der Herren. Und auch hier wird im Publikum mitgesungen und getanzt. Der Platz ist voll. Familien lagern mit Picknickkörben im Gras. Hin und wieder blitzt der Nationalstolz auf.

Flagge zeigen

Flagge zeigen

Dann das Konzert, der Abschluss. Die russische Band DDT spielt und wieder zeigt die Reaktion der Umstehenden, dass die Jungs ziemlich populär sind. Gute Texte, soweit ich sie verstehe. (siehe den Link)

Der Tag geht zu Ende.

30. Juni

Es kracht. Nichts weiter passiert, der Busfahrer hat den Gang eingelegt. Scheint auch keine Ungeschicklichkeit gewesen zu sein. Das Geräusch ist einfach an jeder Bushaltestelle zu hören. Ich will raus- und zwar in’s Umland. Malye Koreli ist das Ziel. Ein Freilichtmuseum, das einen Querschnitt durch vier Jahrhunderte russischer Holzarchitektur verspricht. Also los. Die Dinger sehen außen so abenteuerlich aus wie drinnen.

Öffentlicher Nahverkehr

Öffentlicher Nahverkehr

Die Fahrt im Vehikel kostet in der Stadt in der Stadt achtzehn Rubel, egal wie weit man fährt. Das sind ungefähr vierzig Cent. Die Fahrt zum Museum kostet mich einen Euro. Es ist ein Fest für die Wirbelsäule. Die Straßen passen hervorragend zur digitalen Federung des Fahrzeuges. Die Russen nehmen es gar nicht wahr. Irgendwann sind wir da.

Bus Stop im Nirgendwo

Bus Stop im Nirgendwo

Ich bezahle meine einhundert Rubel Eintritt und bin drin. Ein erstaunliches Museum, welches schon 1964 gegründet wurde. Aus umliegenden Dörfern wurden alte Häuser und Kirchen zusammengetragen und in einem herrlichen Waldareal rekonstruiert. Nach einer Weile fühlt man sich in die Vergangenheit versetzt. Unwillkürlich fallen mir die russischen Märchenfilme ein und es würde mich nicht wundern, käme die Baba-Jaga auf dem Besen um die Ecke.

Hier wohnen Mascha und der Bär

Hier wohnen Mascha und der Bär

Dazu tragen sicher auch die Frauen bei, die die zugänglichen Gebäude in traditionellen Trachten erklären. Allerdings kam ich da schnell an die Grenzen meiner Russischkenntnisse. Und trotzdem, es war einfach schön. Ein Tag zum dahinmeditieren. Tut gut…

Abtauchen

Abtauchen

 

Zurück mit dem allerliebsten Autobus. Die Schaffnerin, ja, die fahren in jedem Fahrzeug mit, ist allerdings sowjetisch. Nur das notwendigste reden und möglichst im Befehlston. Aber derartige Umgangstöne sterben auch hier langsam aus. Die Leute, auch in den Geschäften, sind im Allgemeinen sehr freundlich und hilfsbereit. Die Sowjetzeit wächst sich langsam raus. Ich schlendere noch so durch die Stadt besorge mir noch was zu essen und sehe zu, wie die Fußballer für hohe EKG-Werte sorgen. Morgen werde ich mich den weiteren Verlauf der Reise kümmern. Es geht weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Nach Archangelsk zu fahren, war eine gute Entscheidung. Poka!