Schlagwort-Archiv: Russland

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XI

22. Juni

Wassili meint es gut, es gibt Kascha. Das war wohl unvermeidlich. Wir kommen ins Gespräch. Er spricht deutsch, ich versuche russisch zu antworten. Es geht irgendwie. Wir reden über die Arbeit, die Familie. Einer seiner Cousins war nach dem Krieg kurzzeitig Stadtkommandant von Bad Schandau. Wassili ist klein, dünn mit Vollbart, irgendwie so, wie man sich einen alten Professor vorstellt. Er kennt Deutschland und auch Dresden. Er ist Designer, auch für Möbel und Inneneinrichtungen. Die Hellerauer Werkstätten sind ihm ein Begriff. Und natürlich kommen wir auf die Ukraine zu sprechen. Das Dilemma ist tief. Wassili ist ganz offensichtlich keiner dieser lautstarken Patrioten, für die ein fast siebzig Jahre zurückliegender Sieg der Mittelpunkt ihrer kleinen Welt ist. Die Krim ist in seinen Augen russisch und der Anschluss folgerichtig. Er scheint weit entfernt von irgendeinem nationalistischen Taumel, den Medien und Politik in Russland sehen und den es zweifellos gibt. Wenn Menschen wie er dies so sehen, dann ist der Weg aus dieser Krise wohl noch schwerer als gedacht. Ich denke an das Gespräch mit Andreijs in Lettland. Der Graben zwischen Russland und dem Rest der Welt, selbst zu den ehemaligen Sowjetrepubliken, ist tief. Hier hat sich in den stalinistischen Jahren ein paralleles Universum entwickelt. Die Jahrzehntelange Abschottung mit paranoiden Zügen hat ihre Spuren hinterlassen. Russland hat noch einen weiten Weg vor sich. Ich hätte dieses Gespräch gern noch fortgesetzt aber die Zeit drängt. Ich will los. Denis ruft noch mal an. Kirill und er wollen mich auf ihren Motorrädern durch die Stadt begleiten. Zwei russische und eine „deutsche“ URAL, ein interessantes Bild.

Eskorte- Kirill und Denis

Eskorte- Kirill und Denis

Ich brauche mir keine Gedanken über die Navigation zu machen und kann die Fahrt an der Newa entlang noch einmal so richtig genießen, zumal Sonntag ist und der Verkehr erträglich. Am Stadtrand, an der Murmansker Chaussee verabschieden wir uns. Vor mir liegen fünf Tage Fahrt durch ein unbekanntes Land. Am nächsten Freitag möchte ich in Archangelsk sein. Mir ist etwas beklommen zumute. Ja, ich verstehe und spreche ein wenig Russisch und ich bin nicht zum ersten Mal in diesem Land. Und dennoch bin ich innerlich angespannt. Es ist nicht Deutschland, wo man vielleicht mal zwei Stunden auf den ADAC warten muss und wo die Polizei meist kooperativ ist. Passiert hier etwas Unvorhergesehenes muss man sich etwas einfallen lassen. Und das Wort Entfernung wird hier auf „fern“ betont. Die beiden Russen hauen mir noch mal auf die Schulter und weiter geht’s auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk, wenn auch mit einem kleinen Umweg. Ich komme erstmal gut voran, die Straßen sind sehr brauchbar und das Tankstellennetz ist ausreichend. Dann biege ich von der M18, die nach Murmansk führt ab. Ich möchte ja erstmal nach Archangelsk. Das Bild ändert sich. Der Verkehr hört fast auf und die Straßen verschlechtern sich von Kilometer zu Kilometer.

Russian Outback

Russian Outback

Es ist dieses Gebiet zwischen Ladogasee und Onegasee. Hin und wieder ein kleines Dorf, ansonsten Wald. Auch der Mobilfunkempfang ist dürftig. Hier ist also das russische Outback. Man kann sich wirklich verlieren. Und trotz seiner Abgeschiedenheit war das Gebiet im Krieg umkämpft. Denkmäler zeigen den damaligen Frontverlauf und erinnern an die Blockade Leningrads, die schätzungsweise eine Million zivile Opfer gefordert hat. Irgendwann spät abends schlage ich mein Zelt unweit der Straße auf und arrangiere mich mit den Mücken.

Allein unter Mücken

Allein unter Mücken

23. Juni

Auf einmal ist die Straße weg. Soeben habe ich noch das Schild in Richtung Vytegra gesehen und plötzlich liegt vor mir nur noch ein Feldweg. Glücklicherweise stehen ein Mann und eine Frau am Straßenrand. Auf meine Frage, ob das denn der Weg nach Vytegra sei, nicken sie. Der Mann erklärt mir noch, dass es nur neunzig Kilometer wären. Jetzt bin ich wahrscheinlich endgültig in Russland.

Lost Runway in Russia

Lost Runway in Russia

Es geht los. Tiefe Löcher wechseln sich mit kurzen, harten Bodenwellen ab. Ich fahre Slalom und meine Geschwindigkeit ist zeitweise nicht schneller als 20 km/h. Der dritte und der vierte Gang haben heute frei. Hin und und wieder überholen mich einheimische Fahrzeuge aller Größen. Es scheint doch eine offizielle Straße zu sein. Nach solchen Begegnungen sehe durch den Staub minutenlang nichts. Zum Glück ist das Wetter noch gut. Ich stelle mir vor, es würde auch noch regnen. Unwillkürlich denke ich an die Schilderungen diverser Armeen der Vergangenheit, die an den russischen Straßenverhältnissen gescheitert sind. Ich quäle mich vorwärts durch den Wald. Immer mal schaue ich nach, ob noch alle Teile dran sind.

Lost Runway in Russia II

Lost Runway in Russia II

Überraschend sind für mich die Dörfer. Als Stätten des Verfalls hatte ich sie in Erinnerung, trostlos und heruntergekommen. Das scheint hier nicht so zu sein. Klar, die Holzhäuser sind immer noch windschief auch die freilaufenden Hunde gibt’s immer noch. Aber es scheint mehr Leben in den Häusern zu sein, mehr Farbe an den Wänden und gepflegte Vorgärten. Und es gibt Menschen auf den Straßen, intakte Läden. Irgendwann in Pudosh entscheide ich mich für einen der kleinen Läden am Straßenrand, Café genannt. Schnell, schmackhaft und nicht teuer, so lautet die Reklame. Von außen oft abweisend und unwirtlich sind sie drinnen sehr annehmbar, wenn auch schlicht, in ihrer Einrichtung. Für sehr wenig Geld kann man hier russisch essen: Soljanka, Borschtsch, Fisch, Schaschlyk, Blini, die Auswahl ist gut.

Verpflegungsstützpunkt

Verpflegungsstützpunkt

Die Bedienung ist schnell und für russische Verhältnisse überaus freundlich. Ich entscheide mich für Fisch. Es geht weiter auf der Buckelpiste bis zum Nachtlager bei Kargopol. Die Waldeinfahrten bei Kargopol sind videoüberwacht. Der Grund ist die unsägliche russische Angewohnheit, Müll in die Natur zu kippen. Es ist wirklich eine Seuche. Nun stehen hier Videokameras und Tafeln, die Geldstrafen androhen. Die aufgeführten Zahlen sind beeindruckend. Ich baue mein Zelt auf und räume erstmal ein altes Lada-Teil beiseite. In der Nacht beginnt es zu regnen.

24. Juni

Das Geräusch ist anders. Ich bin gestern eingeschlafen, als der Regen auf das Zelt hämmerte. Es klingt nicht mehr so. Ich traue meinen Augen nicht. Es schneit.

Ski und Rodel gut

Ski und Rodel gut

Über Nacht sind die Temperaturen gefallen und wird mir wieder klar, dass ich in Karelien bin. Ich beschließe im Bett zu bleiben. Lebensmittel und Lesestoff sind zur Genüge da und hier im Wald belästigt mich niemand. Schlafen, Essen und Lesen. Nur schade, dass es keinen Kamin gibt.

25. Juni

Ob ich denn wirklich aus Deutschland mit dem Motorrad gekommen wäre? Der ältere Herr in Kargopol kann es kaum glauben. Eine typische Begegnung. Die URAL mit deutschem Kennzeichen erregt Aufmerksamkeit. Die nächste Frage lautet fast immer: „Warum nicht BMW?“ Meine Standardantwort: „Zu teuer!“ Damit geben sich die meisten zufrieden. Kargopol, inmitten von Wald. Eine russische Provinzstadt mit Holzhäusern zwischen sozialistischen Betonbauten, schlechten Straßen, Kirchen und einer großen Zahl unterschiedlichster Geschäfte. Der Handel scheint zu blühen, es sind zahlreiche Menschen auf der Straße. Die Kirchen sind beeindruckend.

Russland- Deine Kirchen

Russland- Deine Kirchen

Ein russischer Bekannter zu Hause hatte mir diese Gegend, Karelien, empfohlen. Weder die Deutschen im Krieg noch die Kommunisten hätten hier viel zerstört. Russland wäre hier noch ursprünglich. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie diese sakralen Bauten die sozialistische Zeit überstanden haben. Ein wenig verfallen, aber sie sind da. Einträchtig neben den Denkmälern aus Sowjetzeiten. Städte wie Kargopol wirken wenig einladend. Man hier trotz der bunten Reklametafeln und des regen Handels das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Es erscheint alles so weit weg von unserer Welt. Das Wetter ist immer noch schlecht.

Kargopol Downtown

Kargopol Downtown

Weiter auf schlechten Straßen. Abends habe ich die M8 erreicht, die Moskau mit Archangelsk verbindet. Eine weitere Nacht im Wald.

26. Juni

Ereignisarm-eine Fahrt durch unendliche Wälder. Wieder Nachtlager draußen. Es regnet immer noch.

27.Juni

Es ist, als wäre ich nach einer langen Fahrt über’s Meer auf einem anderen Kontinent gelandet. Archangelsk kündigt sich an. Am Straßenrand eine riesige Statue des Erzengels Michael, der der Stadt seinen Namen gab.

Michail

Michail

Es ist wie in einem Märchen. Schon zehn Kilometer vor Archangelsk sehe ich die goldenen Kuppeln der Kathedrale in der Sonne, die sich nun auch endlich blicken lässt. Es kommt mir vor, als wäre ich ewig unterwegs gewesen. Die Stadt empfängt mich offen und freundlich. Ein Gefühl des Ankommens erfüllt mich. Die Vorfreude auf den Luxus einer Dusche und eines Bettes nimmt mich gefangen. Es war eine lange Reise von Sankt Petersburg hierher und ich konnte mich manchmal des Gefühls der Verlorenheit in diesem riesigen Land nicht erwehren. Die Landstraße gibt mich wieder frei. Ich bin da!

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk X

20. Juni

„Good Luck“, und es ist offensichtlich nicht hämisch gemeint. Okay, die Jungs sind nicht gerade die Archetypen der Idealschwiegersöhne, aber sie geben erstmal Auskunft. Ich habe mich in einen Vorort von Sankt Petersburg aufgemacht, um die Reparaturmöglichkeiten für’s Motorrad auszuloten. Nur für den Fall, dass… MOTODEPO heißt der Laden, den ich im Internet ausfindig gemacht habe. Eine Hinterhofwerkstatt, bevölkert von ziemlich schrägen Typen. Nein, URAL geht gar nicht. Der Grund? Es gibt schlicht keine Teile. Hat sich also nichts geändert im Vergleich zu 2008. Sie gucken ein wenig reserviert und ratlos, als ich meine Reisepläne erzähle. „Good Luck!“ Hmm… Also erstmal Fehlanzeige. Abends kriege ich plötzlich noch eine Mail. Denis aus Sankt Petersburg meldet sich. Es gibt sie also doch noch, die russischen URAL-Fahrer. Ich hatte die URAL-Vertriebsorganisation für Europa, die sitzt in Österreich, angeschrieben, ob es irgendwelche Kontakte hier in Sankt Petersburg gibt. Freundlicherweise gab’s den Draht zum besagten URAL-Kollegen. Kurzes Telefonat, eine Stunde später sitzen wir uns in der Bar gegenüber. Gesprächsstoff? Kein Problem, gibt’s sofort. Gut, jemanden zu kennen, den man im Falle eines Falles anrufen kann. Denis, ein dreißigjähriger Elektroingenieur, verspricht mir zu helfen, wo es geht, wenn der unerwünschte Fall eintreten sollte. Er ist der Meinung, URAL-Fahrer seien eben ein wenig anders. Könnte er Recht haben… Wir quatschen- russisch und englisch durcheinander, wahrscheinlich ziemlich laut. Plötzlich steht eine Frau vom Nebentisch auf und kommt rüber. Sie hätte unser Gespräch nicht überhören können, sagt sie. Jetzt gibt’s den Anpfiff, denke ich. Weit gefehlt! Sie hatte aufgeschnappt, dass ich mit dem Motorrad aus Deutschland gekommen bin. Unglaublich, ob ich das noch mal bestätigen könnte. Klar kann ich. Sie ist der Meinung, dass wäre umwerfend und geht wieder an ihren Tisch. Sachen gibt’s…Später kommt noch Denis‘ Kumpel Kirill dazu und gegen Mitternacht sind die beiden der Meinung, dass man noch einen Stadtrundgang machen müsse.

Newski at Night

Newski at Night

Damit hier keine falschen Vorstellungen aufkommen, es war kein Saufgelage…

Wir ziehen los und geraten in einen Tsunami. Heute ist die offizielle Feier der Petersburger Schulabgänger. Heute fließt die Newa andersrum.

Kirill mit Winkelement

Kirill mit Winkelement

Der Newski-Prospekt ist seit dem Nachmittag für Autos gesperrt und eine gigantische Partymeile. In Sankt Petersburg ist heute schlafen verboten. Denis und Kirill wollen zum Winterpalast. Seit Tagen wurde dort an einer riesigen Bühne geschraubt. Überall johlende, singende, tanzende Menschen. Überraschend wenig Methanolgeschädigte. Wir treiben so mit und Denis versucht mir noch Sehenswürdigkeiten zu erklären. Verlorene Mühe. Allerdings schaffen wir es nicht, bis zur Bühne vorzudringen. Der Platz vorm Winterpalais ist weiträumig abgesperrt und die Jungs mit den Tellermützen lassen wirklich nur Schulabgänger durch, wahrscheinlich, um die Party im Rahmen zu halten. Wir können irgendwie nicht glaubhaft machen, heute die Schule beendet zu haben, obwohl ich mich am Morgen rasiert habe. Nun denn, trotzdem gute Stimmung. Gegen drei verabschieden wir uns dann. Bin total breit. Wir werden in Kontakt bleiben.

21. Juni

Wassili ist der Meinung, dass ich Kraft brauche. Wassili ist Professor an der hiesigen Kunsthochschule und mein Vermieter. Außerdem hat sich herausgestellt, dass er den Klotzscher Wasserturm kennt. Ausgerechnet mitten in Sankt Petersburg trifft man jemand, der schon mal in Klotzsche und Hellerau war. Nun ja… Kraft also… Es gibt Kascha, die berühmte Buchweizengrütze. Ich gucke erstmal begeistert. Ökologischer Anbau wird mir noch gesagt. So, so…

Kascha aus ökologischem Anbau

Kascha aus ökologischem Anbau

Ganz ehrlich: es ist nicht ganz mein Ding. Aber ich esse tapfer auf. Heute ist mein letzter Tag an der Newa. Ich bin noch so ein wenig wacklig von gestern. Kirill ruft nochmal an, vielleicht treffen wir uns Morgen vor der Abfahrt nochmal. Heute sind Reisevorbereitungen angesagt. Motorrad durchsehen, Ölstände prüfen, Schrauben festziehen. Mir fällt nichts Besorgniserregendes auf. Morgen geht’s in den Wald. Auf dem Weg nach Murmansk ist ein kleiner Abstecher nach Archangelsk geplant. Eintausenddreihundert Kilometer, am nächsten Freitag soll es vollbracht sein. Ab in die Wildnis. Schon auf der Karte sieht’s sehr abgeschieden aus. Nu, budjet. Wenn das Motorrad läuft und die Tellermützen nicht zu sehr die Hand aufhalten, ist es bequem zu schaffen- Ladogasee, Onegasee, Wald, Wald und dazwischen wahrscheinlich Bäume. Wird Zeit, dass ich aus der Stadt rauskomme. Waren aufregende Tage aber die Stadt vereinnahmt und fordert. Schnell, laut, mitreißend. Ruhe ist selten.

Nun denn, ab Morgen gilt es. Abends noch Abschied von der Newa. Weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Poka, Newa!

Poka, Newa!

Internet gibt’s dann in Archangelsk wieder.

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IX

18. Juni

Die Stadt springt mich an. Mein Quartier ist in Sichtweite des Newski-Prospektes. Das Epizentrum. Die ruhigen baltischen Tage sind plötzlich nur noch eine Erinnerung. Hier steppt der Bär, und zwar der russische. Oder vielleicht doch nicht dieser, denn diese Stadt ist auf den zweiten Blick anders. Anders als die russischen Städte, die ich kenne, selbst anders als Moskau.

Summer in Piter

Summer in Piter

Schon der Baustil spricht eine eigene Sprache. Russischer Klassizismus. Sankt Petersburg atmet Geschichte und Kultur, es vibriert. Ich werde mir auch diese Stadt erlaufen, wie Częstochowa, wie Warschau. Was als erstes auffällt, sind die unzähligen Anbieter von Bootstouren durch die Kanäle der Stadt Peters, des Ersten. Sehr deutlich werden die Passanten per Lautsprecher geworben, doch bitte eines der Boote zu besteigen. Ich könnte mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen, ich wüsste sofort, wann ich eine der vielen Kanalbrücken überquere. Patriotische Busse kreuzen meinen Weg.

Danke für den Sieg!

Danke für den Sieg!

Ich lasse mich durch die unüberschaubare Menschenmenge treiben, ohne Ziel. Ein Torbogen, der mir vage bekannt vorkommt. In unzähligen Filmen über die Oktoberrevolution schon gesehen. Ich durchquere ihn, und stehe plötzlich auf einem riesigen Platz. Vor mir der Winterpalast, ein Hotspot der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die unser Leben über Jahrzehnte so sehr geprägt hat.

Winterpalast

Winterpalast

Hier nahm eine Geschichte ihren Anfang, die wahrscheinlich hoffnungsvoll begann und im blutigen Albtraum des Stalinismus endete um letztendlich bankrott die Bühne wieder zu verlassen. Ich kann mich der historischen Wirkung dieses Platzes nicht richtig entziehen. Was wäre geschehen, wenn dieser legendäre Sturm auf das Winterpalais, der zum Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung, die den Zar abgelöst hatte, führte, missglückt wäre? Wie wäre es weitergegangen?

Alexandersäule

Alexandersäule

Heute ist dieser Platz ein touristisches Highlight in Sankt Petersburg, oder Sankt Peterburg, wie es in Russland offiziell heißt, oder Piter, wie es die Leute hier nennen. Fotografierende Menschen, Skateboarder, Radfahrer. Apropos, Radfahrer- so viele wie hier hab ich in noch keiner russischen Stadt gesehen.

Shooting

Shooting

Kein Unterschied zu westeuropäischen Metropolen. Und unübersehbar die Staatsmacht, Polizei und sogar OMON-Leute, die Truppe für’s Grobe des russischen Innenministeriums. Weiter geht es… Die Admiralität, auch ein Begriff aus der Revolutionshistorie. Glückliche Brautpaare im Park, relaxte Menschen auf den Parkbänken. Auffallend ist, dass es keine alkoholaffinen Problembürger und keine Bettler gibt. Alles ist sauber, aufgeräumt, geordnet. Hier wurde wohl ein Mikrokosmos für Besucher geschaffen. Übrigens, was den Polen ihr Smartphone ist, scheint den Russen ihr Tablet, oder Planchett, wie es hier genannt wird, zu sein. Allenthalben Menschen, die es vor sich hertragen und damit fotografieren.

Nicht ohne mein...

Nicht ohne mein…

In der Peter-Pauls –Festung finden öffentliche Exerzierübungen von Kursanten, sprich Offiziersschülern, statt. Erinnerungen überkommen mich ( :–) ) und mir tun die Jungs ein wenig leid, die hier dem Gaudi der Touristen dienen. Aber vielleicht sehen sie es selbst auch ganz anders. Und auch hier gibt es urplötzlich diese ruhigen Ecken, wo man kurz durchatmen kann.

Am Ufer

Am Ufer

Weiter zur „Aurora“, auch ein früheres Heiligtum. Sie liegt vertäut an einem Seitenarm der Newa. Der Liegeplatz zeigt einmal mehr, wie grandios eine Idee scheitern kann. Umgeben von Symbolen des faulenden und sterbenden Kapitalismus ist das Schiff eine Touristenattraktion von vielen.

Der Sieg...

Der Sieg…

Mehr Sankt Petersburg schaffe ich dann doch nicht mehr. Die Hermitage hebe ich mir für Morgen auf. Diese Stadt stellt Anforderungen. Der Abend klingt in einem der unzähligen Cafes aus.

19. Juni

Erstmal umziehen. Ich muss nochmal das Quartier wechseln, wenn auch nur einen Hauseingang weiter. Tatjana verwickelt mich in ein längeres Gespräch über das Leben in Sankt Petersburg. Sie ist zwar Rentnerin aber, wie sie sagt, noch nicht zu alt zum Arbeiten. Außerdem sind die russischen Renten wohl nicht so üppig. Das Gespräch führt mich an die Grenzen meiner Russischkenntnisse, manchmal auch darüber hinaus. Sie ist, nach ihren Worten, ein Mensch der Sowjetzeit. Ja, klar konnte man kaum in’s Ausland fahren und klar gab es dieses und jenes nicht. Man hat gelebt, in einer Stadt, die auch zu Sowjetzeiten etwas Besonderes war. Leningrad war keine Provinz. Der Stolz auf die Kultur und die Geschichte „ihrer“ Stadt ist nicht zu überhören. Historische Plätze, an denen Dichter wie Puschkin und Gogol arbeiteten, direkt vor der Tür zu haben, das gehört auch einer Lebensqualität. Und Kultur gab’s zu Sowjetzeiten meistens umsonst, besplatno, oder für kleines Geld.

Ich ziehe also ins Nebenhaus, in eine Wohnung, die durchaus auch in der Dresdner Neustadt sein könnte. Ein älteres Ehepaar vermietet hier ein Zimmer.

Übernachtung

Übernachtung

Die übliche Stahltürenprozedur, dann wieder los, in die Menge. Heute soll es die Hermitage sein. Lange Schlangen vor den Ticketschaltern. Ich probiere mein Glück an einem der Ticketautomaten, die draußen stehen. Offensichtlich habe ich das Kleingedruckte wieder nicht richtig gelesen. Der Automat spuckt zwei Karten aus. Und jetzt? Auch kein Problem, ich verkaufe das zusätzliche Ticket kurzerhand an ein russisches Paar, welches gerade den Nebenautomaten bearbeitet. Der Handel geht über die Bühne, vierhundert Rubel und ein Ticket wechseln den Besitzer. Dann die Hermitage. Es erschlägt mich geradezu. Kultur und Kunst im XXL-Format. Und wieder Menschen über Menschen, was den Kunstgenuss etwas schmälert. Besonders die Gemälde, die Porträts, haben es mir angetan. Es ist, als ob mich lebendige Menschen anblicken. Die Ausstellung über das Leben am Zarenhof des 19. Jahrhunderts fasziniert mich. Was für eine Pracht und welcher Luxus! Wenn ich bedenke, dass der russische Bauer zu dieser Zeit kaum dem Mittelalter entkommen war, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts hier einen ihrer Ausgangspunkte hatten. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde in Russland erst im Jahre 1861 offiziell abgeschafft.

Nach drei Stunden kann ich nicht mehr. Raus an die Luft! Ich möchte unbedingt den Smolny sehen, meine letzte Station auf der Reise in die revolutionäre Vergangenheit. Das Gebäude liegt doch etwas abseits. Auf dem Weg dahin laufe ich durch Gegenden, die dann doch nicht zu den touristischen Highlights gehören. Es wird ruhiger und auch die Restaurierung der Gebäude wird hier und da noch etwas dauern. Es wird, für meine Begriffe, russischer. Es ist irgendwie schwer zu beschreiben aber russische Städte haben so ein Fluidum, welches ich im Zentrum von Sankt Petersburg nicht so richtig ausmachen kann. Eine Mischung aus Morbidität und Geschäftstüchtigkeit, schwer zu sagen.

Der Smolny an sich ist nicht so gigantisch. Ein normales Verwaltungsgebäude im klassizistischen Stil inmitten einer Parkanlage. Aber die Fahrbahn heißt hier tatsächlich Straße der Diktatur des Proletariats, Marx und Engels gucken streng von ihren Sockeln und zentral vor dem Gebäude die Statue eines gewissen Gospodin Uljanow alias Wladimir Iljytsch, der in irgendeine lichte Zukunft weist.

Die Zentrale

Die Zentrale

Hier war also die Kommandozentrale. Und wieder kommt mir in den Sinn, was die Ereignisse, die im Jahre 1917 hier stattfanden, ausgelöst haben. Welche Verheißungen gemacht wurden und in welchem Elend es dann endete. Es regnet, ich mache mich auf den Rückweg.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VIII

17. Juni

„Marka?“ kommt es etwas unwirsch aus dem Schalterhäuschen, in dem eine sehr attraktive Vertreterin des russischen Zolls sitzt. Ich versuche grade die estnisch-russische Grenze in Narva zu überwinden, die EU-Außengrenze sozusagen. Sie will für die Zollerklärung den Typ des Motorrades wissen.

„Ural!“. Ihr Blick sagt irgendwas in der Richtung: hör auf mich zu veralbern, Kleiner! Ich bekräftige meine Aussage mit meinem schönsten Lächeln und einem deutlichen „Da!“ Damit entlocke ich doch einer russischen Amtsdame ein freundliches Grinsen. Wenn das kein guter Auftakt ist…. Ansonsten kann man da auf und niederhüpfen, um eine emotionale Regung zu provozieren. Sie will noch wissen, ob die Maschine tatsächlich funktioniert und guckt entschieden ungläubig. Na ja, zum Abschied ernte ich ein sehr freundliches „bye-bye“ und bin durch. Wieder mal in Russland. Weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Und wieder einmal regnet es. Ich mache mich auf schlechte Straßen und mindestens zwei Polizeikontrollen bis Sankt Petersburg  gefasst, eine Erfahrung meiner Tour in den Ural vor sechs Jahren. Nichts dergleichen passiert. Super Straße, die Staatsmacht ist präsent, nimmt aber keinerlei Notiz von mir. Und es ist bitter kalt. Sankt Petersburg empfängt mich mit einem anständigen Stau. Hatte ich erwartet. Und diese Stadt ist riesig. Lange fahre ich durch die betonierten Vororte, die so typisch sind für östliche Städte. Die Ausschilderung ist perfekt. Irgendwann bin ich auf dem Newski Prospekt. Es regnet. Ich bin hundemüde. Und es ist kalt. Eine Dusche, ein Bett und vielleicht ein Bier. Soweit kann man Wünsche reduzieren. Ich irre noch ein wenig zwischen den Kanälen rum, um das Quartier zu finden. Drei Telefonate mit dem Vermieter zur Lokalisierung und dann bin ich da. Tatjana, die überaus fürsorgliche Herbergsmutter, steht schon im Regen auf der Straße und winkt mich in die richtige Toreinfahrt. Petersburger Hinterhof, alles mit Ketten und Stahltüren gesichert, hmmm….mal sehen.

Die Ural steht sicher...

Die Ural steht sicher…

Aber die Unterkunft ist top. Das ist mir schon bei meiner ersten Tour aufgefallen. Man darf sich von den Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen. Sobald man die zweite Stahltür passiert hat, ist man in einer anderen Welt. Zimmer, Küche, Dusche, alles bestens. Schnell noch im Tante-Emma-Laden das Abendbrot einkaufen und dann ist es erstmal gut. Mittlerweile Mitternacht- am nächsten Tag geht’s weiter. Budjet…

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VII

14. Juni

„Yes, it’s okay!“ Diesen Satz werde ich an diesem Abend von Andrejs noch öfter hören. Ich bin gestrandet- vorerst. Es regnet seit gestern.

Herrliches Wetter im Baltikum

Herrliches Wetter im Baltikum

Immer wieder starke Schauer. Dazu teilweise sehr seltsame Straßen.

Russian Runway in Litauen

Russian Runway in Litauen

Die letzte Nacht habe ich im Zelt auf einer Wiese verbracht. Eigentlich völlig in Ordnung, wenn das Wetter etwas besser wäre.

Outside Camping

Outside Camping

Kann man sich nicht aussuchen. Und kurz hinter Riga passiert es. Nach einer kurzen Pause am Straßenrand verweigert die URAL die Kooperation, ohne jede Vorwarnung. Nicht mal die Ladekontrolllampe spielt noch mit, keinerlei Saft. Und nun? Dass gar nichts geht, gibt mir allerdings ein wenig Hoffnung, die Ursache schnell zu finden. Ich beginne: Batterie ok, Sicherungen ok, keine sichtbaren Kabelbeschädigungen, auch ok. Beim Zündschloss werde ich fündig. Simpel gesagt, ein Wackelkontakt. Ich beginne schicksalsergeben, das Teil auseinander zu nehmen. Wenn mir eine dieser winzigen Federn und Kugeln runterfällt, habe ich ein richtiges Problem. Und es regnet. Nach einer Weile habe ich es tatsächlich gesäubert und wieder zusammengebaut. Na, mal sehen. Ja, sie springt an. Zusammenpacken und weiter. Nach fünf Kilometern Ernüchterung. Das gleiche Problem. Es ist mittlerweile 21:00. Zum Verzweifeln. Dass es immer noch regnet, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Dann überholt mich ein Kleintransporter und verschwindet hinter mir im Wald. Ich sehe plötzlich dieses Werbeschild eines Quadverleihes, einhundert Meter entfernt. Ich klopfe dort an die Scheibe, schildere mein Problem und bitte darum, das Motorrad unterstellen und vielleicht sogar die Nacht hier verbringen zu dürfen. „Yes, it’s okay!“ Vorerst gerettet. Andrejs, so heißt der Besitzer des Ladens, kocht mir erstmal einen Kaffee und stellt mir seine kleine Werkstatt samt Inventar zur Verfügung. Das Motorrad könne hierbleiben, bis ich eine Lösung gefunden habe. „Yes, it’s okay!“ Ich bin erstmal unsäglich erleichtert und beginne, das Problem nochmal unter Werkstattbedingungen zu untersuchen. Schnell habe ich rausgefunden, wie ich die URAL unter Umständen kurzschließen könnte, damit ich erstmal weiterkomme. Britta schickt mir von zu Hause per Mail den Schaltplan, an Andrejs Adresse. „Yes, it’s okay!“ Es ist unglaublich.

Neben meinem Gebastel reden wir russisch und englisch noch über Gott und die Welt, über russische Motorräder, die Ukraine und manches andere. Interessant, die Meinung eines Letten zur Ukrainekrise zu hören. Ja, sie fühlen sich von Russland tatsächlich bedroht. Auf meine Antwort, dass sie ja durch die NATO Mitgliedschaft geschützt sind, guckt er ziemlich skeptisch. Russische Medien lügen, dies ist seine feste Überzeugung. Die Russen in Lettland sieht er erstaunlich differenziert. Keine prinzipielle Ablehnung, er habe auch russische Freunde. Russisch rede er aber nur mit denen, die bereit sind, sich zu integrieren und auch lettisch zu lernen. Inzwischen ist es 23:00. Andrejs will nach Hause und ich richte mir mein Nachtlager auf der Partyterasse ein. Strom und Wasser sind da. Erstmal soweit alles gut. Morgen sehen wir weiter.

Nachtasyl

Nachtasyl

15. Juni

Andrejs taucht gegen 11:00 mit Kaffee und Frühstück für mich auf. Inzwischen habe ich mir den Zündschalter nochmal näher angesehen und glaube, die Ursache gefunden zu haben. Eine Stück verschmortes Plastik auf einem winzigen Kontakt. Muss ich gestern wohl übersehen haben. Abkratzen, zusammenbauen, Schlüssel rein- und es läuft! Wieder reisefertig und auch ein wenig stolz, das Problem gelöst zu haben :-). Zumal das Mysterium der russischen Fahrzeugelektrik dadurch mich etwas durchschaubarer geworden ist.

Andrejs

Andrejs

Ich verabschiede mich von Andrejs und gegen 13:30 bin ich zurück im Spiel. Danke, Andrejs!

Die rettende Werkstatt

Die rettende Werkstatt

Was jetzt kommt, ist Genussmotorradfahren in Vollendung. Leere, gut ausgebaute Straßen, herrliche Wald- und Wiesenlandschaft und ein Wetter wie aus dem Intershop.

Tartu taucht auf und ich entscheide mich mal für ein Hotel. Es waren bei allem Ärger zwei sehr interessante Tage. Wieder mal die alte Regel, dass es in der Krise spannend wird. Morgen geht’s weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Erstmal in die Nähe der russischen Grenze, um den Sprung nach Sankt Petersburg zu schaffen.

Wer spaltet Europa wirklich?

Etwas scheint bei den Medien angekommen zu sein, zumindest bei der ZEIT. Bernd Ulrich schreibt darüber, dass Putin Europa spaltet.

Allerdings steht in diesem Artikel sehr deutlich eine andere Frage im Raum:  ZITAT:…dann stehen zurzeit zwei Drittel der Bürger, Wähler, Leser gegen vier Fünftel der politischen Klasse, also gegen die Regierung, gegen die überwältigende Mehrheit des Parlaments und gegen die meisten Zeitungen und Sender (ZITATENDE).

Böswillig interpretiert: Wie kommt das Volk zu einer anderen Meinung als die Eliten (wie auch immer man sie definiert)?

Der Autor ist irritiert über die Argumente, schließlich ginge es hier um ZITATden Konflikt zwischen einem aggressiven Autokraten und den westlichen Demokraten. ZTATENDE.

In dieser Fragestellung liegt bereits der Beginn einer Antwort. Es geht eben nicht darum. Ja, Wladimir Putin ist ein aggressiver Autokrat. Aber den Widerspruch, der im Artikel beklagt wird, darauf zu reduzieren ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz. Seit Beginn (oder Verschärfung) der ukrainischen Krise gibt es wenig ausgewogene Berichterstattung. Ja, diese Ausgewogenheit darf von den Lesern erwartet werden, auch wenn dies im Artikel in Frage gestellt wird, mit der Begründung, dass es um die  Legitimität des Völkerrechts geht. Und das rechtfertigt eine indoktrinäre Berichterstattung? Nach dem Motto, dass dies das Volk sowieso nicht begreift?  Man mag es nicht glauben.

In den Medien (auch in den sogenannten Leitmedien) wird immer wieder unterstellt, dass jeder, der auch nur ansatzweise die Handlungen der EU und der USA in Frage stellt, einer Annexion der Krim das Wort redet. Der demagogische, diffamierende Begriff des Putinverstehers ist allgegenwärtig. Den oben erwähnten Bürgern, Wählern und Lesern scheint nicht zugetraut zu werden, selbst zu urteilen. Darüber bin ICH bestürzt. Und es fehlt mir jedes Verständnis für diese Denkweise. Auch wenn die Medien sich selbst als Getriebene darstellen. Die Medien sollen ihren Lesern nicht nach dem Mund reden, beziehungsweise schreiben. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber man darf nicht larmoyant werden, wenn nicht alle der Meinung ausgewählter Autoren folgen.

Es für viele Menschen unbegreiflich, und für einige auch unerträglich, wie dogmatisch derart komplexe Vorgänge wie in der Ukraine pauschal in schwarz und weiß, beziehungsweise gut und böse unterteilt werden. Um es noch einmal klarzustellen, Russlands Griff nach der Ukraine, einschließlich der Krim, ist zu verurteilen. Dafür gibt es kein Verständnis, wohl aber Erklärungen. Und die sind sehr nötig, um die Krise zu meistern. Und dazu gehört die unbequeme Frage, welchen Beitrag der Westen geleistet hat, dass die Situation sich jetzt so darstellt. Nur wenn man diese Fragen ehrlich beantwortet, finden sich Lösungen. Es hilft nicht, sich auf einen moralischen Sockel zu stellen, dessen Fundament man in der Vergangenheit durch seine eigenen Handlungen schwer beschädigt hat. Wenn man die Argumentation vieler Politiker und Medien konsequent zu Ende denkt, muss man einen Krieg gegen Russland zumindest mal in Betracht ziehen. Die Äußerungen des tschechischen Präsidenten sind da nicht ganz eindeutig. Ist das gewollt?  Kein Mensch will den Krieg aber in Politik und Medien entsteht der Eindruck, dass man diesen zumindest in Kauf nehmen würde. Wenn kritischen Stimmen dann noch unisono diffamiert werden, braucht man sich nicht zu wundern.

Ich glaube, dass die ukrainische Krise für viele, die hier als Putinversteher gebrandmarkt werden, einfach  ein Anlass ist, ihre Unzufriedenheit auszudrücken.  Es ist tatsächlich so: Zitat: Die Mehrheit empfindet nicht nur gegenüber Washington diese unheilvolle Mischung von fremder Anmaßung und eigener Ohnmacht, sondern auch gegen Brüssel. Im Fall der Krimkrise kommt beides zusammen. Zitatende.

Die Menschen empfinden eine zunehmende Differenz zwischen sich und ihren, zugegeben gewählten, Vertretern. Das Resultat ist eine unterschwellige, bisweilen offene, zunehmend aggressive  Unzufriedenheit. Politiker und Parteien werden ohnmächtig verachtet, zum Teil als Vasallen der USA begriffen, die Medien als ihre Erfüllungsgehilfen gesehen. Die Foren der Online-Ausgaben großer Tages- und Wochenzeitungen sprechen da Bände.  Und das ist richtig gefährlich.

ZITAT: Die EU spannt gern mal ein Drahtseil über ihre Legitimationslücken und tanzt darauf Tango. ZITATENDE.

Besser kann man es nicht ausdrücken. Wer spaltet Europa wirklich? Europa als Institution entfernt sich immer mehr von seinen Bürgern –und das ist die Ursache der Spaltung. Putin nimmt sich, was sich anbietet.

Ich finde den Artikel gut, erstellt aus meiner Sicht viele richtige Fragen. Meine persönlichen Antworten sehen anders aus aber das ist eben Meinungsfreiheit.

 

 

 

Ja, ich bin ein Putinversteher

Putinversteher scheint  zum geflügelten Wort zu werden. Höchstselbst ins Spiel gebracht vom Herausgeber der ZEIT, Josef Joffe. Wohl abwertend allen gegenüber, die es nach seiner Meinung  immer noch nicht verstanden haben. DER RUSSE IST DER FEIND, VERDAMMT NOCHMAL! War er ja schließlich schon immer, DER RUSSE, nicht wahr…

In den vergangenen Wochen konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, das (un)selige NEUE DEUTSCHLAND sei in Form von ZEIT und SPIEGEL wieder auferstanden.

Schade, ich habe Josef Joffe als Journalist immer geschätzt obwohl seine Standpunkte oft nicht meine eigenen waren. Aber schreiben kann der Mann. Der verlinkte Artikel ist gut gemacht – er liest sich. Andererseits zeugt es eben nicht gerade von Größe, wenn man Andersdenkende pseudointellektuell (in diesem Falle pauschal als Putinversteher) abqualifiziert. Seine Analyse der betreffenden Gruppen ist aus meiner Sicht durchaus zutreffend. Ja, es gibt sie alle, so wie sie beschrieben wurden. Aber er vermittelt sehr geschickt den Eindruck, jedes Hinterfragen der Rolle des Westens in der ukrainischen Krise wäre irgendwo zwischen Böswilligkeit und politischer Blindheit angesiedelt. Und hier überschreitet er die Grenze zu Demagogie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es unbewusst passiert. Vielleicht ist es auch eine trotzige Reaktion, weil er sich nicht eingestehen kann, dass der Westen (so man ihn als homogene Einheit begreift) in Bezug auf Russland versagt hat. Putins Vorgehen ist in keiner Weise akzeptabel. Aber letztendlich ist die „kalte“ Annexion der Krim der vorläufig letzte Akt einer Entwicklung, die mit dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion begann. Der alte Machtapparat des Kreml existierte weiter- auch wenn neue Namen auftauchten. Der Verlust der alten Sowjetunion wurde nie akzeptiert. Spätestens seit der zweiten Amtszeit Putins standen die Zeichen auf Restauration. Und damals hätte der Westen reagieren müssen. Durch eine konsequente Einbindung Russlands und das setzt wiederum voraus, dass man Russland als Verhandlungspartner respektiert, auch bei unterschiedlichen Standpunkten. Wenn man aber immer wieder klarmacht, dass man diesen Respekt eben nicht hat, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Gegenseite irgendwann abweisend reagiert. Was also nun? Im Augenblick stellt sich die Situation so dar, dass der Westen teilweise hysterisch mit Gewalt droht. Wie kann man sonst die Äußerung  eines NATO-Generalsekretärs deuten? Will man hier wirklich Krieg? Denn das wäre die logische Konsequenz dieser Argumentationskette. Ich kann es nicht glauben. Und hierhin passt ein weiterer Artikel Josef Joffes.

Was will der Mann? Bedauert er wirklich, dass Rüstungsausgaben europaweit real zurück gefahren wurden? Oder sollte es hier wirklich nur um die Interessen der Rüstungsindustrie gehen? Ich glaube, das ist zu platt. Die Situation ist verfahren. Der Westen hat in unsäglicher Arroganz Russland unterschätzt.  Der Anschluss der Krim an Russland ist, gelinde gesagt, ein unfreundlicher Akt. Aber, wenn man sich ernsthaft mit der russischen (und sowjetischen) Geschichte beschäftigt, hätte man das voraussehen können. Und viel früher mit Erfolg das tun, was Josef Joffe im letztgenannten Artikel ganz richtig schreibt: Zitat:  Europa verlässt sich auf seine „weiche Macht“, die Putin zugleich straft und lockt…. Das Ganze wird gepaart mit der Einladung: „Komm zurück in die Gemeinschaft der friedenswilligen Nationen.“ (Zitat Ende)

Säbelrasselnde Rhetorik hilft uns nicht weiter. Aber so langsam scheint sich der Wind in den deutschen Leitmedien (wie definiert man das eigentlich?) zu drehen. Wohltuend hier der Beitrag von Ingo Schulze in der SÜDDEUTSCHEN. Wenn es darum geht, darüber nachzudenken, wie es zu dieser Krise gekommen ist, ohne in Beissreflexe des Kalten Krieges einerseits und in platte antiamerikanische  Ressentiments andererseits zu verfallen, bin ich doch gern ein Putinversteher.

Russland muss an den Verhandlungstisch. Aber man muss auch einen Stuhl hinstellen.

Das Geschichtsverständnis von Frau C. und die Glaubwürdigkeit des Westens

Der Vergleich Putins mit Hitler -Hillary Clinton hat die ganz große Keule rausgeholt. Oder ist das bereits einsetzende Senilität? Das der Beifall ausgerechnet von McCain kommt, sollte ihr dabei schwer zu denken geben.

Die Welt steht vor einem schwer lösbaren Problem. Das klingt pathetisch, ist aber wohl so. Der Konflikt auf der Krim kann nur mit Russland gelöst werden. Wer dies ignoriert, ist schlicht nicht von dieser Welt. Und Frau Clinton hat keine bessere Idee, als Wahlkampf zu machen. Anders kann man ihren historisch (freundlich ausgedrückt) zweifelhaften Vergleich Putins mit Hitler nicht werten. Oder sie hat wirklich etwas nicht verstanden? Wohl kaum, denn sie ist diesbezüglich in der Vergangenheit nicht negativ aufgefallen. Also doch Wahlkampf, zu einem Zeitpunkt, der ungeeigneter kaum sein könnte. Wenn man denn einer konstruktiven Lösung des Konflikts interessiert ist.

Das Problem ist, dass der Westen (hier meine ich die USA und die EU) eben nicht gewillt ist, den Konflikt mit Russland zu lösen. Statt dessen alte Muster: drohen, eskalieren, Sanktionen verhängen, die sinn- und wirkungslos sind, die Fronten aber noch mehr verhärten. Wie kann man so verblendet sein, zu glauben, gewinnen zu können? Man soll keine Drohung aussprechen, die man nicht wahr machen kann. Was wollen die USA (Europa wird am Ende wohl nicht gefragt werden)? Einen Militärschlag gegen Russland? Man kann nur hoffen, dass die kranken Hirne, die es zweifellos gibt, nicht entscheidend sind. In der gegenwärtigen Situation hat Putin überhaupt keine Veranlassung einzulenken. Er sieht sich im Recht, genauso wie sich die USA in Vietnam, in Grenada, im Irak, in Afghanistan im Recht gesehen haben. Warum sollte er auf eine Politik verzichten, die für Amerika uf der anderen Seite selbstverständlich ist? Interessengebiete abstecken und unter Kontrolle bringen mit der Begründung tatsächlicher, eingebildeter oder erfundener Bedrohungen – Szenarien des überwunden geglaubten Kalten Krieges. Das  russische Vorgehen in der Ukraine ist verwerflich- moralisch, juristisch, völkerrechtlich. Aber der Westen (und hier besonders die USA) hat auf Grund seiner  Vergangenheit ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn man sich hier auf einen moralischen Sockel stellt, auch wenn es im Falle der Ukraine tausendmal gerechtfertigt wäre.

Umso mehr kann es nur den einen Weg geben- den Kalten Krieg endlich zu beenden und die andere Seite als Partner zu respektieren und nicht als Feind. Nur dann kann man auch Forderungen stellen. Alles andere wäre mittelfristig für die Menschen in der Ukraine und in Russland (ja, auch da leben welche), ein Verhängnis. Zumal es die USA historisch gesehen schon einmal vorgemacht haben- mit der Einbindung Westdeutschland nach dem Krieg.

Stalins Erben und die Arroganz der Sieger

Gibt es Krieg in Europa? Die Zeitung mit den vier Buchstaben stellte diese Frage unlängst auch unübersehbar. Gut, das ist Polemik  und die Situation heute mit der 1914 zu vergleichen, ist auch nicht gerade korrekt. Was passiert in der Ukraine? Was macht Putin? Jeden, der einigermaßen bei Verstand ist, dürften diese Fragen interessieren. Die Medien sind voll von Beschimpfungen und Schuldzuweisungen in Richtung des „Zaren“. Zu Recht? Ich denke ja und dennoch bringt uns die reine, helle Empörung, dass seine Auffassungen von Recht und Gesetz nicht akzeptabel sind, nicht unbedingt weiter.

Die derzeitige Situation kommt nicht wirklich überraschend. Überraschend ist nur, wie unklug der Westen (wenn man von diesem als einem homogenen Gebilde sprechen kann) reagiert. Was wir heute sehen, sind auch (immer noch) die Folgen Stalinscher Nationalitätenpolitik. Teile und herrsche – im ursprünglichen Sinn. Völker wurden hin und her verschoben, Grenzen willkürlich gesetzt, so dass am Ende nur noch Misstrauen und Feindschaft übrig blieben. Aber die Sowjetunion war ein Land, das heißt ihre Bewohner siedelten überall, auch wenn sie nicht immer miteinander klarkamen. Dieses Land existierte immerhin siebzig Jahre, also zwei bis drei Generationen lang.

Und genau das wurde völlig außer Acht gelassen, als die Sowjetunion zerfiel und sich Nationalstaaten formierten. Millionen Russen lebten nun plötzlich außerhalb des „neuen“ Mutterlandes-  und trotzdem weiterhin in ihrer bisherigen Heimat. Sie wurden und werden oft schwer diskriminiert. Es war abzusehen, dass dies irgendwann Probleme bereitet. Die russischen Machthaber haben den Zerfall des einstigen Sowjetreiches nie akzeptiert. Der Westen hat in den 90er Jahren den hoffnungslosen Trinker Jelzin unterstützt, nicht sehend oder nicht sehen wollend, dass der alte Machtapparat erhalten blieb, zumindest die handelnden Personen und ihre Beziehungen untereinander. Viele derer, die heute das Sagen haben, begannen ihre Karriere in der alten KPdSU. Hat denn wirklich jemand geglaubt, dass diese sich mit dem Schrumpfen ihres einstigen Herrschaftsbereiches einfach so abfinden? Zumal die Dinge im Falle der Ukraine und ganz besonders im Falle der Krim nicht so eindeutig sind wie beispielsweise in den baltischen Staaten, die 1940 annektiert wurden. Die Ukraine ist heute bereits ein gespaltenes Land. Der Westen, Teil der alten k.u.k. Monarchie mit Städten wie Lemberg, waren immer etwas anderes als das Land östlich des Dnepr. Das war die Sowjetukraine. Und die Krim und die Schwarzmeerküste? Am Schwarzen Meer stand unter Peter I. die Wiege der russischen Schwarzmeerflotte, auf der Krim wurde das bekannte Abkommen von Jalta unterzeichnet, Odessa ist Schauplatz von Sergej Eisensteins berühmten Film „Panzerkreuzer Potemkin“. Die gesamte Gegend ist untrennbar mit der russischen Geschichte verbunden. Das kann man nicht einfach ignorieren. Und hier beginnt das Versagen des Westens. Spätestens als Wladimir Putin durch Gesetzesänderungen begann, seine Macht auf Lebenszeit zu zementieren, hätte man erkennen müssen, dass die Zeichen auf Restauration stehen. Und man hätte reagieren müssen. Zweifellos ist Putin kein Demokrat (by the way- bei unseren amerikanischen Verbündeten habe ich da auch meine Zweifel). Aber wir müssen akzeptieren, dass er eines der größten Länder der Erde regiert, welches immer noch über eine gewaltige Militärmacht und riesige Rohstoffvorkommen verfügt. Daran kommt man nicht vorbei, ob es uns gefällt oder nicht. Der Westen, sowohl seine politischen Führer als auch die Medien, hat dagegen Putin immer als Paria behandelt, als einen, den man nicht dabei haben will. Sehr gut zu beobachten an der Berichterstattung deutscher Medien über die Olympiade in Sotschi- teilweise unverhohlene Häme über die angebliche Unfähigkeit der Russen, irgendetwas auf die Beine zu stellen. Fast hatte man den Eindruck der Enttäuschung über den glatten Verlauf der Veranstaltung. Arroganz und Abfälligkeit diesem Land und seinen Bewohnern gegenüber sind allgegenwärtig.

Putin wird das Schicksal der Russen auf der Krim persönlich egal sein. Aber das äußerst ungeschickte antirussische Gebaren der neuen ukrainischen Regierung, wohlwollend geduldet vom Westen, war eine gigantische Steilvorlage für Moskau. Die Krim war für die Russen nie Ausland. Und der Westen, speziell die EU? Kaum zu glauben, dass man die Situation in der Ukraine über Monate beobachtete und anscheinend wirklich dachte, das Problem ohne Russland lösen zu können. Wie blind darf man eigentlich sein? Es war abzusehen, dass sich die Situation irgendwann entlädt. Putin ist in dieser Hinsicht berechenbar. Es war klar, dass er versuchen wird, seine Interessen zu wahren und das die Krim ein Brennpunkt sein wird. Steinmeier hätte nach Moskau statt nach Kiew reisen sollen, das hätte den Menschen in der Ukraine mittelfristig mehr geholfen. Nun haben die Russen die Krim faktisch besetzt und ist schwer vorstellbar, dass sie ihr Militär kurzfristig wieder abziehen. Und der Westen ist hoffentlich klug genug, von einer militärischen Option die Finger zu lassen. Putin muss an den Verhandlungstisch und dazu muss man ihn als Verhandlungspartner zumindest respektieren, auf wenn es schwer fällt. Was tut der Westen? Er ruft nach Sanktionen. Das klingt  hilflos. Wie sollen die aussehen? Kaufen wir kein russisches Gas mehr? Schließen wir die Absatzmärkte für europäische Waren, Exportmärkte von denen gerade die deutsche Wirtschaft abhängt?

Russland militärisches Vorgehen ist nicht akzeptabel. Aber der Westen hat sich seine Möglichkeiten der Einflussnahme schon längst verbaut. Durch die Arroganz des vermeintlichen Siegers. Ein später Triumph Stalins und Stalins Erben?