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„Es wird mittlerweile als erwiesen angesehen.“

Dieser Satz begegnet mir in Variationen in den Medien täglich mehrmals. Und ich mag ihn mittlerweile nicht mehr lesen noch hören. Worum geht es? In der Ukraine, also in Europa, tobt ein Bürgerkrieg. Ein Krieg, dessen Ursachen lange zurückliegen. Nicht erst die Ereignisse auf dem MAIDAN haben ihn verursacht und auch nicht die „kalte“ Annexion der Krim durch Russland. Dies waren höchstens die Auslöser. Wer verstehen will, warum die Kriegsparteien aufeinander einschlagen, muss bis in die Zeit der Sowjetunion zurückgehen und ebenfalls die Jahre unmittelbar nach ihren Zerfall betrachten – siehe „Stalins Erben und die Arroganz der Sieger“. Die Situation in der Ukraine ist, nach allem, was man in den Medien erfährt, eine Katastrophe, in allererster Linie für die Bevölkerung. Die Separatisten kämpfen, die ukrainische Armee kämpft, und zwischendrin versuchen Menschen zu überleben, die dort einfach nicht mehr weg können. Und das Überleben scheint von Tag zu Tag schwerer zu werden. Mit dem Abschuss der malaysischen Boeing – wer auch immer diesen Abschuss zu verantworten hat- sollte auch dem letzten Ignoranten klar geworden sein, dass dies kein Konflikt von regionaler Bedeutung mehr ist. Die direkten Kriegsparteien können sich wohl nicht mehr einigen. Zuviel Unvorstellbares ist auf beiden Seiten passiert. Dieser Konflikt kann nur noch von außen beendet werden. Durch eine Einigung des Westen, in diesem Falle der EU und der USA auf der einen Seite und Russlands auf der anderen. Und hier wird aus meiner Sicht ein unverantwortliches Spiel gespielt- von beiden Seiten. Seit Monaten hört man nichts Anderes als Schuldzuweisungen und Drohungen. Der Westen verhängt Sanktionen und die russische Regierung kontert mit der Erhöhung der Energiepreise. Wenn nicht soviele Menschen darunter leiden würden und soviel europäische Zukunft auf dem Spiel stehen würde, könnte man fast darüber lachen. Es erinnert mich an eine Geschichte aus meinem Lesebuch der ersten Klasse – „Die zwei kleinen Ziegenböcke“. Am Ende lagen beide im Wasser.

Ja, Russland hat riesige Demokratiedefizite. Siebzig Jahre Sowjetmacht stalinistischer Prägung waren ein Fluch und ein Albtraum für dieses Land. Es wird noch lange brauchen, um diese Zeit wirtschaftlich und gesellschaftlich zu überwinden. Zu groß ist noch die Überzeugung, dass das Ende der Sowjetunion und der damit verbundene Verlust des Supermachtstatus‘ ein historisches Unrecht ist. Ich habe sie in Sankt Petersburg, in Archangelsk, in Murmansk gesehen, die Parolen „Danke, Großvater für den Sieg!“ An Autos von jungen Menschen, deren Großväter im Krieg wahrscheinlich selbst noch Kinder waren. Hier entsteht, oder existiert wahrscheinlich schon, eine gefährliche Bunkermentalität. Wir gegen die. Und der Westen tut viel dafür. Ich denke, das System Putin ist für Russland auf Dauer nicht gut. Aber das Verhalten des Westens, seine Politik, seine Medien arbeiten ihm zu. Russland wird mit Schuldzuweisungen überhäuft, Beweise werden angekündigt und bleiben dann aus. „Es wird mittlerweise als erwiesen angesehen!“ Ist es erwiesen oder nicht? Der Abschuss eines Passagierflugzeuges ist eine Katastrophe, die man sich als Nichtbetroffener wohl kaum vorstellen kann. Und wenn es aus Kalkül geschieht, ein ungeheuerliches Verbrechen. Bevor man allerdings jemanden eines derartigen Verbrechens bezichtigt, sollte man Argumente, sprich Beweise, haben. Das Verbrechen ohne Beweise zu instrumentalisieren ist moralisch fragwürdig. Niemand reagiert gelassen, wenn er mit einem derartigen Vorwurf konfrontiert wird. Die ZEIT geht hier, wie so oft, wieder einmal mit „gutem“ Beispiel voran. „Der Krieg wird nicht am Absturzort entschieden“– so der Titel eines Kommentares von CARSTEN LUTHER vom 31.07.2014.

ZITAT: Doch parallel zu den territorialen Verlusten wird die militärische Ausstattung der Rebellen besser. Nur so konnte es zum Abschuss des Malaysia-Airlines-Passagierflugzeugs kommen. ZITATENDE.

Es steht also bereits fest, zumindest für Herrn Luther, wer hier der Verbrecher ist. Demgegenüber meldet die FAZ am 02.08.2014 dass Ermittler aus den Niederlanden und Australien am Absturzort nach Ursachen suchen. Vielleicht sollte Herr Luther sein Wissen den Ermittlern zur Verfügung stellen.

Zugegeben, die ukrainische Armee geht auch nicht gerade zimperlich vor, wie der ZEIT-Artikel festhält:

ZITAT: Human Rights Watch macht auch der ukrainischen Armee Vorwürfe: Sie habe wenig präzise Grad-Raketen (die aber ebenfalls von den Separatisten eingesetzt werden) in dicht bewohnten Gebieten eingesetzt. Die Organisation spricht von Kriegsverbrechen. ZITATENDE.

Aber das geht für Herrn Luther völlig in Ordnung:

ZITAT: Die zusammengewürfelten und teils schlecht ausgebildeten ukrainischen Truppen kämpfen mit allem, was ihnen zur Verfügung steht. ZITATENDE.

Denn sie haben ja keine Wahl:

ZITAT: Mit jedem Raketenwerfer, jeder Kiste Munition, jedem Kämpfer, der von russischer Seite über die Grenze ins Land gelangt, hat die Ukraine immer weniger die Wahl: Sie muss ihre Militäroffensive gegen die Separatisten im Osten fortsetzen. Denn Russland ist offenbar nicht bereit, irgendetwas zu unternehmen, um den Nachschub für die Milizen zu unterbinden oder sich auch nur von ihnen deutlich zu distanzieren. ZITATENDE

Auch hier werden die alten Vorwürfe ohne jeden Beleg wiederholt. Um es einmal noch einmal klarzustellen: wenn Russland die Separatisten unterstützt, ist die internationale Gemeinschaft gefordert dies zu unterbinden. Genauso wie sie dann gefordert ist, das Vorgehen der ukrainischen Armee und der Nationalgarde zu stoppen. Die Vorwürfe müssen allerdings belegt werden, sonst wird genau das Gegenteil erreicht. Jede Seite fühlt sich im Recht und ermutigt, weiter zu machen. Und inzwischen sterben Menschen für perverse Machtspiele aller beteiligten Parteien. Mit Artikeln wie dem oben zitierten leisten die Medien der Eskalation Vorschub. Wir haben Meinungsfreiheit. Solange keine Gesetze verletzt werden, darf jeder schreiben, was er will. Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass niemand per se die Deutungshoheit über Ereignisse beanspruchen kann. Behauptung statt Argumentation als Stilmittel? Behauptungen sollte man im eigenen, journalistischen, Interesse belegen können. Es ist mittlerweile als erwiesen anzusehen, dass Teile der deutschen Medienlandschaft ein massives Glaubwürdigkeitsproblem haben. Und das ist für eine demokratische Gesellschaft, die wir trotz aller Schwierigkeiten sind, niemals gut.

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk – Ende

„Guten Tag!“ Ich bin kurz erstaunt, dass ich deutsch angesprochen werde. Ich bin es kaum noch gewohnt. Die norwegische Grenzfrau lächelt freundlich. Russland liegt hinter mir. Zweihundert Kilometer trennen mich jetzt von Murmansk. Zweihundert Kilometer durch subarktische Einsamkeit. Niedriges Buschwerk, Felsen und kleine Seen, mehr war nicht. Kaum Ortschaften. Kasernen und Militäranlagen, ja. Irgendwann der Schlagbaum, mitten im Nirgendwo. Kirkenes, der russisch-norwegische Grenzort. Fünfeinhalb Wochen durch Osteuropa liegen hinter mir. Fünfeinhalb Wochen und über sechstausend Kilometer auf der URAL. Die Reise auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk ist endgültig Geschichte. Nach kaum zwanzig Minuten stehe ich auf der anderen Seite des Schlagbaums und habe das Gefühl, wieder in meiner Welt angekommen zu sein. Was bleibt? Russland ist anders, anders als Deutschland, anders auch als Polen und das Baltikum. Es ist schwer zu beschreiben. Die kyrillische Schrift trägt ihren Teil dazu bei. Die Straßen sind teilweise ein Albtraum. Die Städte und Dörfer sind nach unseren Maßstäben heruntergekommen, die Industriebetriebe üble Dreckschleudern. Und doch fasziniert mich dieses riesige Land immer wieder auf’s Neue. Die Menschen, die auf den ersten Blick verschlossen wirken, sind oft hilfsbereit und freundlich. Ich hab es häufig erst gespürt, als ich Probleme hatte. „Brauchst Du Hilfe?“ wurde ich oft gefragt, wenn ich am Straßenrand versucht habe, die URAL wieder in Gang zu kriegen. Klar spreche ich ein wenig russisch aber ich bin doch ein Fremder. Und ich habe hier deswegen nicht einmal Ablehnung erfahren. Im Gegenteil. Ich wurde gefragt, wo ich herkomme, wo ich hin will und auch, ob es mir in Russland gefällt. Smalltalk, sicherlich und trotzdem tut es manchmal gut. Das Land befindet sich in einem Umbruch, denke ich. Seit meiner letzten Reise ist es wesentlich offener geworden. Formalitäten an der Grenze waren nicht mehr so kompliziert wie vor sechs Jahren. Das fast schon paranoide Meldewesen für Ausländer ist drastisch gelockert worden. Riesige Straßenbaustellen, auf denen gearbeitet wird. Die Reise war erstaunlich unkompliziert. Alles hat problemlos funktioniert. Und ich habe interessante, freundliche und großzügige Menschen kennengelernt. Man kann in diesem Land reisen, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen. Und zu dieser Akzeptanz gehört auch die Bereitschaft, die westliche Brille abzulegen. Zu akzeptieren, dass es eine andere Sichtweise auf die jüngere Geschichte gibt. Die Ukrainekrise liegt wie ein Schatten auf diesem Land. Fernsehgeräte sind allgegenwärtig, in Läden, in den kleinen Cafes, in Hotelrezeptionen. Der Krieg in der Ukraine ist präsent. Und dann trifft man auf Menschen, die überhaupt nicht dem Klischee des nationalistischen, propagandaabhängigen Durchschnittsrussen entsprechen und diese Menschen haben auf die Dinge eine völlig andere Sichtweise, als uns unsere Mainstreammedien verordnen. Man muss ihre Sichtweise nicht übernehmen aber über einige Dinge darf man ruhig einmal nachdenken. Ja, wir sind im Westen oft weiter und moderner. Unsere Infrastruktur ist besser und unser Lebensstandard insgesamt höher. Aber daraus leitet sich kein Anspruch auf Überlegenheit ab, wozu man im Westen nicht selten neigt. Wenn man die Selbstverständlichkeit schafft, die Menschen auf Augenhöhe zu sehen, kann man dort eine wunderbare Zeit haben. Ich war nur kurz hier und möchte mir nicht anmaßen, Russland zu verstehen. Manche Dinge werden mir ewig fremd bleiben. Der aus unserer Sicht sehr unkritische Umgang mit der Vergangenheit gehört dazu. Der Kommunismus war ein Fluch für dieses Land und dennoch sind Leninstatuen allgegenwärtig. Und dennoch, ich glaube, dass sich dieses Land modernisiert. Russland ist viel mehr europäisch als asiatisch.

до свида́ния Росси́я

Brotauto

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XVII

13.07.2014

Es ist kaum Verkehr auf den Straßen. Kaum zu glauben, aber hier ist wirklich Sonntag. Kein Vergleich zu Sankt Petersburg und auch zu Archangelsk. Es geht geruhsam zu. Die meisten Geschäfte haben geschlossen. Ich mache mich auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Murmansk ist eine Industrie- und Hafenstadt. Sozialistische Hochhaussiedlungen auf den umliegenden Hügeln blicken auf den am Fjord gelegenen Hafen herab. Tourismus ist hier offensichtlich nicht vorgesehen. Aber jetzt, im Polarsommer, empfängt mich die Stadt offen und freundlich. Erinnerungen an Archangelsk kommen auf, obwohl hier scheinbar alles eine Nummer größer dimensioniert ist. Auch hier die Bauten der Sowjetzeiten, dazwischen vereinzelte alte Holzhäuser und die Glas- und Stahlbetonkathedralen der postsowjetischen Realität. Mein alter Bekannter, Herr Uljanow, blickt von einigen Stellen autoritär in die Runde.

Gruß aus einer anderen zeit

Gruß aus einer anderen Zeit

Murmansk ist eine Heldenstadt. Diese Auszeichnung bekamen Städte, in denen in Krieg besonders schwere Kämpfe stattfanden. Über den eisfreien Hafen erhielt die Sowjetunion große Teile der amerikanischen und britischen Rüstungslieferungen. Entsprechend umkämpft war dieser Ort. Es gelang den deutschen und finnischen Truppen jedoch nie, Murmansk einzunehmen und diese wichtige Nachschublinie zu unterbrechen. Der Rückblick auf den Krieg ist auch heute noch allgegenwärtig in Murmansk. Weit über der Stadt auf einem Berg steht die riesige Statue eines Sowjetsoldaten, der die gesamte Stadt überblickt. Ich mache mich auf den Weg, den Soldaten zu besuchen. Zu meinem Glück geht die Trolleybuslinie 4 bis direkt dorthin.

ÖPNV am Rande der Arktis

ÖPNV am Rande der Arktis

Das Nahverkehrssystem scheint vorbildlich, obwohl die Busse wohl schon bessere Tage gesehen haben. Aber sie fahren im Fünfminutentakt und sind mit umgerechnet vierzig Cent für eine Fahrt preislich unschlagbar. Obern auf dem Berg ist erstmal Volksfest. Der Ort scheint ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflügler zu sein. Musik, Rummel und Schaschlykstände. Die Schaschlykstände sind hier wohl das, was in Deutschland die Bratwurstbuden sind.

Schaschlyk geht immer

Schaschlyk geht immer

Ich kann mich dem Duft nicht entziehen. Dazu ein frischgezapftes Bier. Ringsum entspannte Menschen. Familien mit Kindern, Cliquen von Jugendlichen, Rentner, alle sind da. Eine gelöste Atmosphäre. Nach dem ich den See umrundet habe, auf dem zahllose Ruderboote fahren, bin an der Statue und der ewigen Flamme.

Der Soldat über Murmansk

Der Soldat über Murmansk

Auch hier werden der feierliche Ernst und die Strenge der Stätte durch herumtobenden Kinder auf eine sehr schöne Weise relativiert. Vergangenheit und Zukunft durchdringen sich. Wie selbstverständlich tummeln sich die Kinder auf den hier zur Erinnerung aufgestellten Geschützen aus Kriegszeiten.

Vergangenheit und Zukunft

Vergangenheit und Zukunft

Der Soldat schaut in die Ferne, nach Westen. Der Ausblick auf Murmansk ist überwältigend. Stadt und Hafen liegen mir zu Füßen.

Ausblick

Ausblick

Im Hafen sehe ich die „Lenin“ liegen. Das Schiff war der weltweit erste Atomeisbrecher und liegt heute hier als Museum. Ich mache mich auf den Rückweg. Touristisch ist Murmansk kein Hotspot aber es tut gut, nach den Tagen am Onegasee und den Nächten unterwegs wieder städtische Atmosphäre zu geniessen. Die Nacht wird kurz, da auch das russische Fernsehen das Finale aus Brasilien überträgt. Es ist ein Moment, an dem ich gern zu Hause gewesen wäre, um das Match in Gesellschaft zu genießen. Und ich freue mich für die deutsche Mannschaft, dass sie diesen Glanzpunkt setzen kann.

14.07.2014

„Museum nie rabotajet?“ frage ich einen Mann in blauer Arbeitskombi. Ich stehe vor dem Atomeisbrecher und wundere mich über die Absperrung. Er murmelt etwas, was ich nicht richtig verstehe und deutet auf die Hinweistafel. Montag und Dienstag ist das Museum geschlossen. Verdammt ärgerlich. Es wäre die einmalige Chance gewesen, dieses legendäre Schiff zu besichtigen.

Der Atomeisbrecher

Der Atomeisbrecher

Ich bin kein Seefahrtsfanatiker aber das hätte ich gern gesehen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein nächstes Mal gibt. Schweren Herzens mache ich noch ein paar Bilder und verlasse den Schauplatz. Der Tag vergeht mit Reisevorbereitungen. Lebensmittel einkaufen und die URAL noch mal „streicheln“. Die Reise auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk ist Geschichte. Morgen steht die endgültig letzte Etappe auf russischem Boden an. Ziel ist das norwegische Kirkenes. Danach geht es nach Hause. Was von Murmansk bleibt, ist der Eindruck einer modernen, lebendigen Stadt, die fest in der Gegenwart steht und ihre Vergangenheit lebendig hält.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XVI

Ein kurzer Rückblick…

12. Juli

Ich würde mir auch kein Zimmer geben. Verdreckt, zerstochen und unrasiert stehe ich an der Hotelrezeption in Murmansk. Die Frau hinter dem Tresen schaut skeptisch, zu Recht. Ich glaube, verwahrlost umschreibt meinen Zustand ganz gut. Meine letzte Dusche hatte ich vier Tage zuvor in Medveshegorsk. Zum Glück habe eine Reservierung. Medveshegorsk ist im Wesentlichen ein Eisenbahnknotenpunkt mit einer kleinen Stadt drum herum. Dem Hotel dort konnte ich nicht widerstehen, der Gedanke einen geruhsamen Fußballabend mit Chips, Bier und Halbfinale war zu stark. Hat sich aber auch gelohnt. Am nächsten Morgen nehme ich dann die letzten 700km bis Murmansk in Angriff. Die M18 führt schnurgerade nach Norden. Die Orte liegen weit auseinander. Fahren, fahren, fahren. Die Gegend ist alles andere als abwechslungsreich. Abends wird es schwierig, ein Nachtlager zu finden. Links und rechts der Straße erstreckt sich Sumpf.

Kein Zeltplatz

Kein Zeltplatz

Am Ende findet sich jedoch etwas. Die sonst sehr gute Straße ist an dieser Stelle eine gigantische Baustelle. Die Tankstellen werden gewöhnungsbedürftig.

Tanken im Nirgendwo

Tanken im Nirgendwo

Fahren, Kilometer fressen. Wald und Sumpf. Irgendwann dann der Polarkreis.

Am Polarkreis

Am Polarkreis

Ein kurzer Plausch mit russischen Motorradfahrern. Die M18 scheint eine beliebte Strecke zu sein. Fahren… Unterwegs noch der fällige Ölwechsel.

Kola-Halbinsel

Kola-Halbinsel

Fünftausend Kilometer bin ich schon unterwegs. Die Berge der Kola-Halbinsel kommen in Sicht. Die Landschaft wird zusehends karger. Und dreckiger. Die gigantische subarktische Landschaft mit ihren Flüssen und Seen inmitten niedriger Vegetation und schneebedeckten Bergen wird von völlig verwüsteten Arealen unterbrochen. Schornsteine vernebeln die Gegend. Es stinkt zum Himmel. In der Gegend um Montschegorsk, wo Nickel angebaut wird, ist es fast unerträglich. Eine übelriechende, apokalyptisch aussehende Mondlandschaft.

Mondlandschaft bei Montschegorsk

Mondlandschaft bei Montschegorsk

Wie in einem schlechten Film überfliegt noch ein Jagdbomber die Szenerie. Bodenschätze und Militärstützpunkte, damit ist die Bedeutung der Kola-Halbinsel umrissen. Der Wechsel von unberührt scheinender Waldlandschaft in diesen Albtraum ist erschütternd. Ich möchte nur noch schnell durch. Hinter Montschegorsk wird es besser.

Am letzten Tag macht die URAL auf einmal richtige Probleme. Unrunder Motorlauf, kein Zug mehr in den oberen Drehzahlbereichen. Diesmal sind alle Kontakte so, wie sie sein müssen. Hier scheint es ein ernsthaftes Problem zu geben. Ich tausche die Zündspule, da ich hoffe, dass das Problem aus dieser Richtung kommt. Es bringt nichts. Es gibt noch eine Chance. Ich wechsel das Zündmodul. Es funktioniert. Allerdings habe ich keine Ersatzteile mehr. Das Zeug muss jetzt dreitausend Kilometer halten. Es sind nur noch dreißig Kilometer bis Murmansk. Irgendwann bin ich da. Wie gesagt, leicht verwahrlost. So eine Dusche ist eine klasse Erfindung. Der Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk ist geschafft.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XIV

07.07. 2014

Ein Tag der vollkommenen Ruhe. Lesen, schwimmen, fotografieren, jenseits aller Hektik. So, als wäre es eine andere Welt. Sommer in Russland. Jeder Ehrgeiz, irgendetwas zu tun, erstirbt. Die wenigen Menschen, die zu sehen sind, machen auch keinen geschäftigen Eindruck. Der Duft des meistens ungehauenen Grases erfasst mich.

Ruhe

Ruhe

Hier gibt es keine richtigen Straßen, keine Geschäfte, keine Kneipen. Die Attraktionen heißen See und Wald. Das abgenutzte Wort entschleunigt kommt mir in den Sinn. Hier wird das Leben auf wenige Punkte reduziert. Ein Ort, der Eitelkeiten nicht zur Kenntnis nimmt. Der See bestimmt die Szene.

Der See ist die Mitte

Der See ist die Mitte

Sankt Petersburg ist weit weg und selbst Archangelsk erscheint im Rückblick wie eine brodelnde Metropole. Ich mache mir allerdings nichts vor. Es ist gut, hier den Augenblick zu genießen aber auch gut zu wissen, dass es ein Atem holen für meine reale Welt ist. Hier ist nicht die Welt, in der ich zu Hause bin. Ich schlendere durch den Tag. Morgen beginnt die letzte Etappe in Russland. Noch einmal neunhundert Kilometer bis Murmansk. Die Tage werden wieder länger. Der Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk geht langsam zu Ende.

Bilder zu Tipinitzy und Kishi unter diesem Link

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XII

28. Juni

„Das ist Provinz!“ Ich habe noch Tatjanas Worte in Sankt Petersburg im Ohr. Nach Tagen auf der Landstraße freue ich mich auf Leben. Die Abgeschiedenheit dieses Landes hat mich mehr vereinnahmt, als ich vorher annahm. Das Zeitgefühl kommt aus dem Rhythmus. Der Tag zerteilt sich in Tankpausen, sonst nichts. Die Metropole erscheint als Oase. Archangelsk hat auch diese Ausstrahlung der östlichen Städte, die irgendwo zwischen der Vergangenheit und einer undefinierten Zukunft liegt. So, als müsste man zwischen Ost und West eine neue Himmelsrichtung erfinden. Aber anders als Sankt Petersburg, welches in einer Art Dauerlauf zu leben scheint, ist hier alles gelassener. Und dennoch alles andere als tot. Gelassener, wie mir scheint. Die Menschen, denen ich begegne, sind auf eine sympathische Art unaufgeregt. Die Bewegungen, die Gespräche, alles scheint eine Spur geruhsamer zu gehen als in Sankt Petersburg. Und es gibt sie noch, die Kwasverkäufer.

Auf der Strasse

Auf der Strasse

Ich mache mich auf den Weg, diesen Ort zu erkunden. Archangelsk hat seine Geschichte. Lange Zeit war der Ort der nördlichste Hafen von Bedeutung, den Russland hatte. Im Jahre 1584 gegründet, war es die Handelsmetropole jener Zeit in der der Region. Über Archangelsk liefen die ersten Kontakte des russischen Reiches unter Iwan, dem Schrecklichen nach England.

Das alte Archangelsk

Das alte Archangelsk

Englische Seefahrer strandeten 1553 in Archangelsk auf der Suche nach einer von Portugal unabhängigen Seepassage nach Indien. Die Seefahrt prägt das Stadtbild bis heute. Darstellungen von Schiffen sind allgegenwärtig. Auch die Denkmäler der Zeit der Interventionskriege 1918-1920, als Truppen der Entente in Archangelsk landeten, und die allgegenwärtigen Monumente des Zweiten Weltkriegs sind oft Seefahrern gewidmet.

Wir lieben Archangelsk

Wir lieben Archangelsk

Die Architektur der Stadt ist ein Querschnitt aus Stein und Holz durch die Jahrhunderte. Die alten russischen Holzhäuser stehen zwischen monströsen Betonblöcken der Sowjetzeit und der Einheitsarchitektur aus Stahl und Glas der Neuzeit.

Denk mal!

Denk mal!

Ein gewisser Herr Uljanow, bekannter unter seinem Künstlernamen Lenin, beherrscht den zentralen Platz der Stadt.

Der alte Mann

Der alte Mann

Und der vergangene Krieg ist auch hier sehr präsent. Doch Archangelsk lebt. Menschen sind unterwegs, erstaunlich viele junge Familien mit Kindern, im Habitus von ihren westeuropäischen Altersgenossen kaum zu unterscheiden. Skater teilen sich die Uferpromenade mit Radfahrern und Joggern, aus den Restaurants dröhnt der übliche russische Pop. Und über allem liegt eine eigenartige Gelassenheit. Selbst der Verkehr, der hier durch eine schier unendliche Zahl klappriger Busse eines Einheitstyps dominiert wird, scheint erträglich.

Rush Hour

Rush Hour

Die Stadt wirkt einladend. Eine Überraschung erlebe ich beim Einkauf. Die Alkoholabteilung ist abgesperrt. Ein Schild sagt mir, dass an diesem Wochenende jede Sorte von Alkohol nur zwischen zehn und dreizehn Uhr verkauft wird. Der Grund ist der Stadtgeburtstag, der an diesem Wochenende stattfinden soll. Noch ist davon nichts zu sehen. Ich genieße die Mitternachtssonne an der Uferpromenade.

Mitternacht an der Dvina

Mitternacht an der Dvina

29. Juni

Etwas liegt in der Luft. Eigentlich will ich heute ein Stück ins Umland fahren. Aber die Straße vor dem Hotel ist gesperrt. Menschen strömen Richtung Innenstadt. Musik ist zu hören. Keine Zeit für’s Umland, das kann warten. Heute ist die Party zum Stadtgeburtstag. Vierhundertdreißig Jahre Archangelsk und scheinbar ist der ganze Ort auf den Beinen. Gegenüber des Herrn Uljanow ist eine riesige Tribüne aufgebaut. Ich lasse mich mittreiben. Und komme genau zum richtigen Zeitpunkt. Auf der Tribüne werden die Feierlichkeiten offiziell eröffnet. Die Führung der Stadt hält Reden. Der Bürgermeister, die örtliche Duma-Abgeordnete, der Oberhirte, Gäste aus Partnerstädten.

Mit dem Segen von ganz oben

Mit dem Segen von ganz oben

Emden ist die Partnerstadt von Archangelsk, wer hätte das gedacht. Zum Glück fassen sich alle kurz und dann kann es losgehen. Tanzdarbietungen, wie man sie in ihren Dimensionen wahrscheinlich nur im Osten kennt. Die Stadt Archangelsk und ihre Geschichte sind das Thema. Historische Figuren wie Iwan, der Schreckliche und Katharina, die Große betreten die Bühne. Die Geschichte der Stadt rollt musikalisch über die Bühne. Der Platz ist voll. Auf der Uferpromenade ein anderes Bild. Hier laufen die alternativen Darbietungen. Straßenmusiker spielen zwischen Schaschlykständen. Und hier ist wieder Osten. Die Menschen jeden Alters bleiben bei den Gitarrenspielern stehen und singen mit.

Die alernative Party an der Dvina

Die alternative Party an der Dvina

Strassenmusik in Archangelsk, russische Lagerfeuerromatik, Lieder von Aufbruch und Unterwegssein. Offensichtlich sehr populär hier. Der perfekte Tag, auch das Wetter spielt mit. Auffällig ist allerdings, dass oft aus Papiertüten getrunken wird… Offensichtliche Opfer dieser Tüten sehe ich allerdings erstaunlich wenige. Zurück zum Herrn Uljanow. Auf der Bühne läuft das russische Folkloreprogramm. Der traditionelle Gesang der Frauenchöre und halsbrecherische Tanzdarbietungen der Herren. Und auch hier wird im Publikum mitgesungen und getanzt. Der Platz ist voll. Familien lagern mit Picknickkörben im Gras. Hin und wieder blitzt der Nationalstolz auf.

Flagge zeigen

Flagge zeigen

Dann das Konzert, der Abschluss. Die russische Band DDT spielt und wieder zeigt die Reaktion der Umstehenden, dass die Jungs ziemlich populär sind. Gute Texte, soweit ich sie verstehe. (siehe den Link)

Der Tag geht zu Ende.

30. Juni

Es kracht. Nichts weiter passiert, der Busfahrer hat den Gang eingelegt. Scheint auch keine Ungeschicklichkeit gewesen zu sein. Das Geräusch ist einfach an jeder Bushaltestelle zu hören. Ich will raus- und zwar in’s Umland. Malye Koreli ist das Ziel. Ein Freilichtmuseum, das einen Querschnitt durch vier Jahrhunderte russischer Holzarchitektur verspricht. Also los. Die Dinger sehen außen so abenteuerlich aus wie drinnen.

Öffentlicher Nahverkehr

Öffentlicher Nahverkehr

Die Fahrt im Vehikel kostet in der Stadt in der Stadt achtzehn Rubel, egal wie weit man fährt. Das sind ungefähr vierzig Cent. Die Fahrt zum Museum kostet mich einen Euro. Es ist ein Fest für die Wirbelsäule. Die Straßen passen hervorragend zur digitalen Federung des Fahrzeuges. Die Russen nehmen es gar nicht wahr. Irgendwann sind wir da.

Bus Stop im Nirgendwo

Bus Stop im Nirgendwo

Ich bezahle meine einhundert Rubel Eintritt und bin drin. Ein erstaunliches Museum, welches schon 1964 gegründet wurde. Aus umliegenden Dörfern wurden alte Häuser und Kirchen zusammengetragen und in einem herrlichen Waldareal rekonstruiert. Nach einer Weile fühlt man sich in die Vergangenheit versetzt. Unwillkürlich fallen mir die russischen Märchenfilme ein und es würde mich nicht wundern, käme die Baba-Jaga auf dem Besen um die Ecke.

Hier wohnen Mascha und der Bär

Hier wohnen Mascha und der Bär

Dazu tragen sicher auch die Frauen bei, die die zugänglichen Gebäude in traditionellen Trachten erklären. Allerdings kam ich da schnell an die Grenzen meiner Russischkenntnisse. Und trotzdem, es war einfach schön. Ein Tag zum dahinmeditieren. Tut gut…

Abtauchen

Abtauchen

 

Zurück mit dem allerliebsten Autobus. Die Schaffnerin, ja, die fahren in jedem Fahrzeug mit, ist allerdings sowjetisch. Nur das notwendigste reden und möglichst im Befehlston. Aber derartige Umgangstöne sterben auch hier langsam aus. Die Leute, auch in den Geschäften, sind im Allgemeinen sehr freundlich und hilfsbereit. Die Sowjetzeit wächst sich langsam raus. Ich schlendere noch so durch die Stadt besorge mir noch was zu essen und sehe zu, wie die Fußballer für hohe EKG-Werte sorgen. Morgen werde ich mich den weiteren Verlauf der Reise kümmern. Es geht weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Nach Archangelsk zu fahren, war eine gute Entscheidung. Poka!

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XI

22. Juni

Wassili meint es gut, es gibt Kascha. Das war wohl unvermeidlich. Wir kommen ins Gespräch. Er spricht deutsch, ich versuche russisch zu antworten. Es geht irgendwie. Wir reden über die Arbeit, die Familie. Einer seiner Cousins war nach dem Krieg kurzzeitig Stadtkommandant von Bad Schandau. Wassili ist klein, dünn mit Vollbart, irgendwie so, wie man sich einen alten Professor vorstellt. Er kennt Deutschland und auch Dresden. Er ist Designer, auch für Möbel und Inneneinrichtungen. Die Hellerauer Werkstätten sind ihm ein Begriff. Und natürlich kommen wir auf die Ukraine zu sprechen. Das Dilemma ist tief. Wassili ist ganz offensichtlich keiner dieser lautstarken Patrioten, für die ein fast siebzig Jahre zurückliegender Sieg der Mittelpunkt ihrer kleinen Welt ist. Die Krim ist in seinen Augen russisch und der Anschluss folgerichtig. Er scheint weit entfernt von irgendeinem nationalistischen Taumel, den Medien und Politik in Russland sehen und den es zweifellos gibt. Wenn Menschen wie er dies so sehen, dann ist der Weg aus dieser Krise wohl noch schwerer als gedacht. Ich denke an das Gespräch mit Andreijs in Lettland. Der Graben zwischen Russland und dem Rest der Welt, selbst zu den ehemaligen Sowjetrepubliken, ist tief. Hier hat sich in den stalinistischen Jahren ein paralleles Universum entwickelt. Die Jahrzehntelange Abschottung mit paranoiden Zügen hat ihre Spuren hinterlassen. Russland hat noch einen weiten Weg vor sich. Ich hätte dieses Gespräch gern noch fortgesetzt aber die Zeit drängt. Ich will los. Denis ruft noch mal an. Kirill und er wollen mich auf ihren Motorrädern durch die Stadt begleiten. Zwei russische und eine „deutsche“ URAL, ein interessantes Bild.

Eskorte- Kirill und Denis

Eskorte- Kirill und Denis

Ich brauche mir keine Gedanken über die Navigation zu machen und kann die Fahrt an der Newa entlang noch einmal so richtig genießen, zumal Sonntag ist und der Verkehr erträglich. Am Stadtrand, an der Murmansker Chaussee verabschieden wir uns. Vor mir liegen fünf Tage Fahrt durch ein unbekanntes Land. Am nächsten Freitag möchte ich in Archangelsk sein. Mir ist etwas beklommen zumute. Ja, ich verstehe und spreche ein wenig Russisch und ich bin nicht zum ersten Mal in diesem Land. Und dennoch bin ich innerlich angespannt. Es ist nicht Deutschland, wo man vielleicht mal zwei Stunden auf den ADAC warten muss und wo die Polizei meist kooperativ ist. Passiert hier etwas Unvorhergesehenes muss man sich etwas einfallen lassen. Und das Wort Entfernung wird hier auf „fern“ betont. Die beiden Russen hauen mir noch mal auf die Schulter und weiter geht’s auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk, wenn auch mit einem kleinen Umweg. Ich komme erstmal gut voran, die Straßen sind sehr brauchbar und das Tankstellennetz ist ausreichend. Dann biege ich von der M18, die nach Murmansk führt ab. Ich möchte ja erstmal nach Archangelsk. Das Bild ändert sich. Der Verkehr hört fast auf und die Straßen verschlechtern sich von Kilometer zu Kilometer.

Russian Outback

Russian Outback

Es ist dieses Gebiet zwischen Ladogasee und Onegasee. Hin und wieder ein kleines Dorf, ansonsten Wald. Auch der Mobilfunkempfang ist dürftig. Hier ist also das russische Outback. Man kann sich wirklich verlieren. Und trotz seiner Abgeschiedenheit war das Gebiet im Krieg umkämpft. Denkmäler zeigen den damaligen Frontverlauf und erinnern an die Blockade Leningrads, die schätzungsweise eine Million zivile Opfer gefordert hat. Irgendwann spät abends schlage ich mein Zelt unweit der Straße auf und arrangiere mich mit den Mücken.

Allein unter Mücken

Allein unter Mücken

23. Juni

Auf einmal ist die Straße weg. Soeben habe ich noch das Schild in Richtung Vytegra gesehen und plötzlich liegt vor mir nur noch ein Feldweg. Glücklicherweise stehen ein Mann und eine Frau am Straßenrand. Auf meine Frage, ob das denn der Weg nach Vytegra sei, nicken sie. Der Mann erklärt mir noch, dass es nur neunzig Kilometer wären. Jetzt bin ich wahrscheinlich endgültig in Russland.

Lost Runway in Russia

Lost Runway in Russia

Es geht los. Tiefe Löcher wechseln sich mit kurzen, harten Bodenwellen ab. Ich fahre Slalom und meine Geschwindigkeit ist zeitweise nicht schneller als 20 km/h. Der dritte und der vierte Gang haben heute frei. Hin und und wieder überholen mich einheimische Fahrzeuge aller Größen. Es scheint doch eine offizielle Straße zu sein. Nach solchen Begegnungen sehe durch den Staub minutenlang nichts. Zum Glück ist das Wetter noch gut. Ich stelle mir vor, es würde auch noch regnen. Unwillkürlich denke ich an die Schilderungen diverser Armeen der Vergangenheit, die an den russischen Straßenverhältnissen gescheitert sind. Ich quäle mich vorwärts durch den Wald. Immer mal schaue ich nach, ob noch alle Teile dran sind.

Lost Runway in Russia II

Lost Runway in Russia II

Überraschend sind für mich die Dörfer. Als Stätten des Verfalls hatte ich sie in Erinnerung, trostlos und heruntergekommen. Das scheint hier nicht so zu sein. Klar, die Holzhäuser sind immer noch windschief auch die freilaufenden Hunde gibt’s immer noch. Aber es scheint mehr Leben in den Häusern zu sein, mehr Farbe an den Wänden und gepflegte Vorgärten. Und es gibt Menschen auf den Straßen, intakte Läden. Irgendwann in Pudosh entscheide ich mich für einen der kleinen Läden am Straßenrand, Café genannt. Schnell, schmackhaft und nicht teuer, so lautet die Reklame. Von außen oft abweisend und unwirtlich sind sie drinnen sehr annehmbar, wenn auch schlicht, in ihrer Einrichtung. Für sehr wenig Geld kann man hier russisch essen: Soljanka, Borschtsch, Fisch, Schaschlyk, Blini, die Auswahl ist gut.

Verpflegungsstützpunkt

Verpflegungsstützpunkt

Die Bedienung ist schnell und für russische Verhältnisse überaus freundlich. Ich entscheide mich für Fisch. Es geht weiter auf der Buckelpiste bis zum Nachtlager bei Kargopol. Die Waldeinfahrten bei Kargopol sind videoüberwacht. Der Grund ist die unsägliche russische Angewohnheit, Müll in die Natur zu kippen. Es ist wirklich eine Seuche. Nun stehen hier Videokameras und Tafeln, die Geldstrafen androhen. Die aufgeführten Zahlen sind beeindruckend. Ich baue mein Zelt auf und räume erstmal ein altes Lada-Teil beiseite. In der Nacht beginnt es zu regnen.

24. Juni

Das Geräusch ist anders. Ich bin gestern eingeschlafen, als der Regen auf das Zelt hämmerte. Es klingt nicht mehr so. Ich traue meinen Augen nicht. Es schneit.

Ski und Rodel gut

Ski und Rodel gut

Über Nacht sind die Temperaturen gefallen und wird mir wieder klar, dass ich in Karelien bin. Ich beschließe im Bett zu bleiben. Lebensmittel und Lesestoff sind zur Genüge da und hier im Wald belästigt mich niemand. Schlafen, Essen und Lesen. Nur schade, dass es keinen Kamin gibt.

25. Juni

Ob ich denn wirklich aus Deutschland mit dem Motorrad gekommen wäre? Der ältere Herr in Kargopol kann es kaum glauben. Eine typische Begegnung. Die URAL mit deutschem Kennzeichen erregt Aufmerksamkeit. Die nächste Frage lautet fast immer: „Warum nicht BMW?“ Meine Standardantwort: „Zu teuer!“ Damit geben sich die meisten zufrieden. Kargopol, inmitten von Wald. Eine russische Provinzstadt mit Holzhäusern zwischen sozialistischen Betonbauten, schlechten Straßen, Kirchen und einer großen Zahl unterschiedlichster Geschäfte. Der Handel scheint zu blühen, es sind zahlreiche Menschen auf der Straße. Die Kirchen sind beeindruckend.

Russland- Deine Kirchen

Russland- Deine Kirchen

Ein russischer Bekannter zu Hause hatte mir diese Gegend, Karelien, empfohlen. Weder die Deutschen im Krieg noch die Kommunisten hätten hier viel zerstört. Russland wäre hier noch ursprünglich. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie diese sakralen Bauten die sozialistische Zeit überstanden haben. Ein wenig verfallen, aber sie sind da. Einträchtig neben den Denkmälern aus Sowjetzeiten. Städte wie Kargopol wirken wenig einladend. Man hier trotz der bunten Reklametafeln und des regen Handels das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Es erscheint alles so weit weg von unserer Welt. Das Wetter ist immer noch schlecht.

Kargopol Downtown

Kargopol Downtown

Weiter auf schlechten Straßen. Abends habe ich die M8 erreicht, die Moskau mit Archangelsk verbindet. Eine weitere Nacht im Wald.

26. Juni

Ereignisarm-eine Fahrt durch unendliche Wälder. Wieder Nachtlager draußen. Es regnet immer noch.

27.Juni

Es ist, als wäre ich nach einer langen Fahrt über’s Meer auf einem anderen Kontinent gelandet. Archangelsk kündigt sich an. Am Straßenrand eine riesige Statue des Erzengels Michael, der der Stadt seinen Namen gab.

Michail

Michail

Es ist wie in einem Märchen. Schon zehn Kilometer vor Archangelsk sehe ich die goldenen Kuppeln der Kathedrale in der Sonne, die sich nun auch endlich blicken lässt. Es kommt mir vor, als wäre ich ewig unterwegs gewesen. Die Stadt empfängt mich offen und freundlich. Ein Gefühl des Ankommens erfüllt mich. Die Vorfreude auf den Luxus einer Dusche und eines Bettes nimmt mich gefangen. Es war eine lange Reise von Sankt Petersburg hierher und ich konnte mich manchmal des Gefühls der Verlorenheit in diesem riesigen Land nicht erwehren. Die Landstraße gibt mich wieder frei. Ich bin da!

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk X

20. Juni

„Good Luck“, und es ist offensichtlich nicht hämisch gemeint. Okay, die Jungs sind nicht gerade die Archetypen der Idealschwiegersöhne, aber sie geben erstmal Auskunft. Ich habe mich in einen Vorort von Sankt Petersburg aufgemacht, um die Reparaturmöglichkeiten für’s Motorrad auszuloten. Nur für den Fall, dass… MOTODEPO heißt der Laden, den ich im Internet ausfindig gemacht habe. Eine Hinterhofwerkstatt, bevölkert von ziemlich schrägen Typen. Nein, URAL geht gar nicht. Der Grund? Es gibt schlicht keine Teile. Hat sich also nichts geändert im Vergleich zu 2008. Sie gucken ein wenig reserviert und ratlos, als ich meine Reisepläne erzähle. „Good Luck!“ Hmm… Also erstmal Fehlanzeige. Abends kriege ich plötzlich noch eine Mail. Denis aus Sankt Petersburg meldet sich. Es gibt sie also doch noch, die russischen URAL-Fahrer. Ich hatte die URAL-Vertriebsorganisation für Europa, die sitzt in Österreich, angeschrieben, ob es irgendwelche Kontakte hier in Sankt Petersburg gibt. Freundlicherweise gab’s den Draht zum besagten URAL-Kollegen. Kurzes Telefonat, eine Stunde später sitzen wir uns in der Bar gegenüber. Gesprächsstoff? Kein Problem, gibt’s sofort. Gut, jemanden zu kennen, den man im Falle eines Falles anrufen kann. Denis, ein dreißigjähriger Elektroingenieur, verspricht mir zu helfen, wo es geht, wenn der unerwünschte Fall eintreten sollte. Er ist der Meinung, URAL-Fahrer seien eben ein wenig anders. Könnte er Recht haben… Wir quatschen- russisch und englisch durcheinander, wahrscheinlich ziemlich laut. Plötzlich steht eine Frau vom Nebentisch auf und kommt rüber. Sie hätte unser Gespräch nicht überhören können, sagt sie. Jetzt gibt’s den Anpfiff, denke ich. Weit gefehlt! Sie hatte aufgeschnappt, dass ich mit dem Motorrad aus Deutschland gekommen bin. Unglaublich, ob ich das noch mal bestätigen könnte. Klar kann ich. Sie ist der Meinung, dass wäre umwerfend und geht wieder an ihren Tisch. Sachen gibt’s…Später kommt noch Denis‘ Kumpel Kirill dazu und gegen Mitternacht sind die beiden der Meinung, dass man noch einen Stadtrundgang machen müsse.

Newski at Night

Newski at Night

Damit hier keine falschen Vorstellungen aufkommen, es war kein Saufgelage…

Wir ziehen los und geraten in einen Tsunami. Heute ist die offizielle Feier der Petersburger Schulabgänger. Heute fließt die Newa andersrum.

Kirill mit Winkelement

Kirill mit Winkelement

Der Newski-Prospekt ist seit dem Nachmittag für Autos gesperrt und eine gigantische Partymeile. In Sankt Petersburg ist heute schlafen verboten. Denis und Kirill wollen zum Winterpalast. Seit Tagen wurde dort an einer riesigen Bühne geschraubt. Überall johlende, singende, tanzende Menschen. Überraschend wenig Methanolgeschädigte. Wir treiben so mit und Denis versucht mir noch Sehenswürdigkeiten zu erklären. Verlorene Mühe. Allerdings schaffen wir es nicht, bis zur Bühne vorzudringen. Der Platz vorm Winterpalais ist weiträumig abgesperrt und die Jungs mit den Tellermützen lassen wirklich nur Schulabgänger durch, wahrscheinlich, um die Party im Rahmen zu halten. Wir können irgendwie nicht glaubhaft machen, heute die Schule beendet zu haben, obwohl ich mich am Morgen rasiert habe. Nun denn, trotzdem gute Stimmung. Gegen drei verabschieden wir uns dann. Bin total breit. Wir werden in Kontakt bleiben.

21. Juni

Wassili ist der Meinung, dass ich Kraft brauche. Wassili ist Professor an der hiesigen Kunsthochschule und mein Vermieter. Außerdem hat sich herausgestellt, dass er den Klotzscher Wasserturm kennt. Ausgerechnet mitten in Sankt Petersburg trifft man jemand, der schon mal in Klotzsche und Hellerau war. Nun ja… Kraft also… Es gibt Kascha, die berühmte Buchweizengrütze. Ich gucke erstmal begeistert. Ökologischer Anbau wird mir noch gesagt. So, so…

Kascha aus ökologischem Anbau

Kascha aus ökologischem Anbau

Ganz ehrlich: es ist nicht ganz mein Ding. Aber ich esse tapfer auf. Heute ist mein letzter Tag an der Newa. Ich bin noch so ein wenig wacklig von gestern. Kirill ruft nochmal an, vielleicht treffen wir uns Morgen vor der Abfahrt nochmal. Heute sind Reisevorbereitungen angesagt. Motorrad durchsehen, Ölstände prüfen, Schrauben festziehen. Mir fällt nichts Besorgniserregendes auf. Morgen geht’s in den Wald. Auf dem Weg nach Murmansk ist ein kleiner Abstecher nach Archangelsk geplant. Eintausenddreihundert Kilometer, am nächsten Freitag soll es vollbracht sein. Ab in die Wildnis. Schon auf der Karte sieht’s sehr abgeschieden aus. Nu, budjet. Wenn das Motorrad läuft und die Tellermützen nicht zu sehr die Hand aufhalten, ist es bequem zu schaffen- Ladogasee, Onegasee, Wald, Wald und dazwischen wahrscheinlich Bäume. Wird Zeit, dass ich aus der Stadt rauskomme. Waren aufregende Tage aber die Stadt vereinnahmt und fordert. Schnell, laut, mitreißend. Ruhe ist selten.

Nun denn, ab Morgen gilt es. Abends noch Abschied von der Newa. Weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Poka, Newa!

Poka, Newa!

Internet gibt’s dann in Archangelsk wieder.

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IX

18. Juni

Die Stadt springt mich an. Mein Quartier ist in Sichtweite des Newski-Prospektes. Das Epizentrum. Die ruhigen baltischen Tage sind plötzlich nur noch eine Erinnerung. Hier steppt der Bär, und zwar der russische. Oder vielleicht doch nicht dieser, denn diese Stadt ist auf den zweiten Blick anders. Anders als die russischen Städte, die ich kenne, selbst anders als Moskau.

Summer in Piter

Summer in Piter

Schon der Baustil spricht eine eigene Sprache. Russischer Klassizismus. Sankt Petersburg atmet Geschichte und Kultur, es vibriert. Ich werde mir auch diese Stadt erlaufen, wie Częstochowa, wie Warschau. Was als erstes auffällt, sind die unzähligen Anbieter von Bootstouren durch die Kanäle der Stadt Peters, des Ersten. Sehr deutlich werden die Passanten per Lautsprecher geworben, doch bitte eines der Boote zu besteigen. Ich könnte mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen, ich wüsste sofort, wann ich eine der vielen Kanalbrücken überquere. Patriotische Busse kreuzen meinen Weg.

Danke für den Sieg!

Danke für den Sieg!

Ich lasse mich durch die unüberschaubare Menschenmenge treiben, ohne Ziel. Ein Torbogen, der mir vage bekannt vorkommt. In unzähligen Filmen über die Oktoberrevolution schon gesehen. Ich durchquere ihn, und stehe plötzlich auf einem riesigen Platz. Vor mir der Winterpalast, ein Hotspot der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die unser Leben über Jahrzehnte so sehr geprägt hat.

Winterpalast

Winterpalast

Hier nahm eine Geschichte ihren Anfang, die wahrscheinlich hoffnungsvoll begann und im blutigen Albtraum des Stalinismus endete um letztendlich bankrott die Bühne wieder zu verlassen. Ich kann mich der historischen Wirkung dieses Platzes nicht richtig entziehen. Was wäre geschehen, wenn dieser legendäre Sturm auf das Winterpalais, der zum Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung, die den Zar abgelöst hatte, führte, missglückt wäre? Wie wäre es weitergegangen?

Alexandersäule

Alexandersäule

Heute ist dieser Platz ein touristisches Highlight in Sankt Petersburg, oder Sankt Peterburg, wie es in Russland offiziell heißt, oder Piter, wie es die Leute hier nennen. Fotografierende Menschen, Skateboarder, Radfahrer. Apropos, Radfahrer- so viele wie hier hab ich in noch keiner russischen Stadt gesehen.

Shooting

Shooting

Kein Unterschied zu westeuropäischen Metropolen. Und unübersehbar die Staatsmacht, Polizei und sogar OMON-Leute, die Truppe für’s Grobe des russischen Innenministeriums. Weiter geht es… Die Admiralität, auch ein Begriff aus der Revolutionshistorie. Glückliche Brautpaare im Park, relaxte Menschen auf den Parkbänken. Auffallend ist, dass es keine alkoholaffinen Problembürger und keine Bettler gibt. Alles ist sauber, aufgeräumt, geordnet. Hier wurde wohl ein Mikrokosmos für Besucher geschaffen. Übrigens, was den Polen ihr Smartphone ist, scheint den Russen ihr Tablet, oder Planchett, wie es hier genannt wird, zu sein. Allenthalben Menschen, die es vor sich hertragen und damit fotografieren.

Nicht ohne mein...

Nicht ohne mein…

In der Peter-Pauls –Festung finden öffentliche Exerzierübungen von Kursanten, sprich Offiziersschülern, statt. Erinnerungen überkommen mich ( :–) ) und mir tun die Jungs ein wenig leid, die hier dem Gaudi der Touristen dienen. Aber vielleicht sehen sie es selbst auch ganz anders. Und auch hier gibt es urplötzlich diese ruhigen Ecken, wo man kurz durchatmen kann.

Am Ufer

Am Ufer

Weiter zur „Aurora“, auch ein früheres Heiligtum. Sie liegt vertäut an einem Seitenarm der Newa. Der Liegeplatz zeigt einmal mehr, wie grandios eine Idee scheitern kann. Umgeben von Symbolen des faulenden und sterbenden Kapitalismus ist das Schiff eine Touristenattraktion von vielen.

Der Sieg...

Der Sieg…

Mehr Sankt Petersburg schaffe ich dann doch nicht mehr. Die Hermitage hebe ich mir für Morgen auf. Diese Stadt stellt Anforderungen. Der Abend klingt in einem der unzähligen Cafes aus.

19. Juni

Erstmal umziehen. Ich muss nochmal das Quartier wechseln, wenn auch nur einen Hauseingang weiter. Tatjana verwickelt mich in ein längeres Gespräch über das Leben in Sankt Petersburg. Sie ist zwar Rentnerin aber, wie sie sagt, noch nicht zu alt zum Arbeiten. Außerdem sind die russischen Renten wohl nicht so üppig. Das Gespräch führt mich an die Grenzen meiner Russischkenntnisse, manchmal auch darüber hinaus. Sie ist, nach ihren Worten, ein Mensch der Sowjetzeit. Ja, klar konnte man kaum in’s Ausland fahren und klar gab es dieses und jenes nicht. Man hat gelebt, in einer Stadt, die auch zu Sowjetzeiten etwas Besonderes war. Leningrad war keine Provinz. Der Stolz auf die Kultur und die Geschichte „ihrer“ Stadt ist nicht zu überhören. Historische Plätze, an denen Dichter wie Puschkin und Gogol arbeiteten, direkt vor der Tür zu haben, das gehört auch einer Lebensqualität. Und Kultur gab’s zu Sowjetzeiten meistens umsonst, besplatno, oder für kleines Geld.

Ich ziehe also ins Nebenhaus, in eine Wohnung, die durchaus auch in der Dresdner Neustadt sein könnte. Ein älteres Ehepaar vermietet hier ein Zimmer.

Übernachtung

Übernachtung

Die übliche Stahltürenprozedur, dann wieder los, in die Menge. Heute soll es die Hermitage sein. Lange Schlangen vor den Ticketschaltern. Ich probiere mein Glück an einem der Ticketautomaten, die draußen stehen. Offensichtlich habe ich das Kleingedruckte wieder nicht richtig gelesen. Der Automat spuckt zwei Karten aus. Und jetzt? Auch kein Problem, ich verkaufe das zusätzliche Ticket kurzerhand an ein russisches Paar, welches gerade den Nebenautomaten bearbeitet. Der Handel geht über die Bühne, vierhundert Rubel und ein Ticket wechseln den Besitzer. Dann die Hermitage. Es erschlägt mich geradezu. Kultur und Kunst im XXL-Format. Und wieder Menschen über Menschen, was den Kunstgenuss etwas schmälert. Besonders die Gemälde, die Porträts, haben es mir angetan. Es ist, als ob mich lebendige Menschen anblicken. Die Ausstellung über das Leben am Zarenhof des 19. Jahrhunderts fasziniert mich. Was für eine Pracht und welcher Luxus! Wenn ich bedenke, dass der russische Bauer zu dieser Zeit kaum dem Mittelalter entkommen war, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts hier einen ihrer Ausgangspunkte hatten. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde in Russland erst im Jahre 1861 offiziell abgeschafft.

Nach drei Stunden kann ich nicht mehr. Raus an die Luft! Ich möchte unbedingt den Smolny sehen, meine letzte Station auf der Reise in die revolutionäre Vergangenheit. Das Gebäude liegt doch etwas abseits. Auf dem Weg dahin laufe ich durch Gegenden, die dann doch nicht zu den touristischen Highlights gehören. Es wird ruhiger und auch die Restaurierung der Gebäude wird hier und da noch etwas dauern. Es wird, für meine Begriffe, russischer. Es ist irgendwie schwer zu beschreiben aber russische Städte haben so ein Fluidum, welches ich im Zentrum von Sankt Petersburg nicht so richtig ausmachen kann. Eine Mischung aus Morbidität und Geschäftstüchtigkeit, schwer zu sagen.

Der Smolny an sich ist nicht so gigantisch. Ein normales Verwaltungsgebäude im klassizistischen Stil inmitten einer Parkanlage. Aber die Fahrbahn heißt hier tatsächlich Straße der Diktatur des Proletariats, Marx und Engels gucken streng von ihren Sockeln und zentral vor dem Gebäude die Statue eines gewissen Gospodin Uljanow alias Wladimir Iljytsch, der in irgendeine lichte Zukunft weist.

Die Zentrale

Die Zentrale

Hier war also die Kommandozentrale. Und wieder kommt mir in den Sinn, was die Ereignisse, die im Jahre 1917 hier stattfanden, ausgelöst haben. Welche Verheißungen gemacht wurden und in welchem Elend es dann endete. Es regnet, ich mache mich auf den Rückweg.