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Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XIV

07.07. 2014

Ein Tag der vollkommenen Ruhe. Lesen, schwimmen, fotografieren, jenseits aller Hektik. So, als wäre es eine andere Welt. Sommer in Russland. Jeder Ehrgeiz, irgendetwas zu tun, erstirbt. Die wenigen Menschen, die zu sehen sind, machen auch keinen geschäftigen Eindruck. Der Duft des meistens ungehauenen Grases erfasst mich.

Ruhe

Ruhe

Hier gibt es keine richtigen Straßen, keine Geschäfte, keine Kneipen. Die Attraktionen heißen See und Wald. Das abgenutzte Wort entschleunigt kommt mir in den Sinn. Hier wird das Leben auf wenige Punkte reduziert. Ein Ort, der Eitelkeiten nicht zur Kenntnis nimmt. Der See bestimmt die Szene.

Der See ist die Mitte

Der See ist die Mitte

Sankt Petersburg ist weit weg und selbst Archangelsk erscheint im Rückblick wie eine brodelnde Metropole. Ich mache mir allerdings nichts vor. Es ist gut, hier den Augenblick zu genießen aber auch gut zu wissen, dass es ein Atem holen für meine reale Welt ist. Hier ist nicht die Welt, in der ich zu Hause bin. Ich schlendere durch den Tag. Morgen beginnt die letzte Etappe in Russland. Noch einmal neunhundert Kilometer bis Murmansk. Die Tage werden wieder länger. Der Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk geht langsam zu Ende.

Bilder zu Tipinitzy und Kishi unter diesem Link

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XIII

02.07.2014

Der Himmel wird immer dunkler und die Straße zumindest nicht besser. Ich bin irgendwo zwischen Archangelsk und Plesezk. Seit vielen Kilometern eine üble, unbefestigte Piste. Sogar die Russen fahren hier langsam und das ist ein echtes Indiz. Endlich ein Platz neben der Straße, an dem man bleiben kann. Blitze zucken und die Zeit bis zum einsetzenden Donner ist extrem kurz. Ich habe gerade das Zelt aufgebaut, da bricht es los. Ich flüchte mich erstmal unter die Brücke. Der Wind drückt das Zelt flach auf den Boden. Das war Timing! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, ich säße jetzt noch im Sattel. Nach fünfundvierzig Minuten ist der Spuk vorbei und es wird eine ruhige Nacht.

03.07.2014

Es klingt nicht gut. Und es fühlt sich noch schlechter an. Die URAL ist unwillig. Unrunder Lauf im oberen Drehzahlbereich, das Ding nimmt kein Gas an. Ich bin bedient. Erstmal Fehlersuche. Mein erster Gedanke gilt den Vergasern, da im Standbetrieb alles in Ordnung zu sein scheint. Also aufschrauben, Düsen reinigen, zusammensetzen. Leider bringt das nicht das gewünschte Resultat. Weiter, Zündung. Funkenprobe ist eigentlich gut, ich sollte mal über den Zündzeitpunkt nachdenken. Inzwischen haben sich zwei Zuschauer eingefunden. Ein russisches Pärchen, bei dem anregende Getränke Grundnahrungsmittel zu sein scheinen und Körperpflege offensichtlich nur ein sehr sporadisches Hobby ist. Normalerweise bin ich Gesprächen nicht abgeneigt, aber die Einladung dieser beiden zu sich Hause, anzunehmen, erscheint mir keine gute Idee. Ich erkläre es ihnen sehr deutlich. Sie lassen nicht locker. Ich komme hier zu gar nichts mehr. Genervt packe ich mein Zeug zusammen. Das verstehen die zwei völlig falsch. In Nullkommanichts hocken sie auf der URAL. Ich bin kurz davor, die Contenance zu verlieren und werde etwas lauter. Endlich begriffen! Nichts wie weg, obwohl ich den Fehler immer noch nicht gefunden habe. Ich rette mich mit der ruckelnden Maschine erstmal in den Ort, nach Plesezk.

Plessezk

Plessezk

Ich brauche einen Kreuzschraubenzieher, den ich nicht mit habe. Die einzigen beiden Kreuzschrauben am Vehikel sind die am Zündmodul unter der Abdeckkappe. Habe ich in Dresden nicht eine Sekunde drüber nachgedacht. Gottseidank gibt’s in Russland alles, womit sich Geld verdienen lässt, also auch Instrumenty, Werkzeug. Der passende Laden ist schnell gefunden und ich suche mir wieder ein Fleckchen, an dem ich ungestört basteln kann.

Straßenwerkstatt

Straßenwerkstatt

Und dann habe ich es. Ein simpler Wackelkontakt an der Zündspule. So halb dran und doch kein richtiger Kontakt. Es geht wieder weiter. Ich fahre noch 200 km entlang des Flusses Onega bis Kargopol. Die Stelle zum Zelten kenne ich ja bereits. Zum Glück schneit es diesmal nicht. Die Mücken freuen sich auch über das Wiedersehen.

04.07.2014

„Da, koneshno!“ Die alte Dame am Glockenturm nickt auf meine Frage, ob man das Bauwerk besichtigen dürfe. Gegen einen kleinen Obolus von sechzig Rubeln ist das kein Problem. Ich möchte wissen, ob Kargopol außer Schnee und Regen noch etwas zu bieten hat. Klar, ein alter Bekannter und die Kirchen, die mir beim letzten Mal aufgefallen sind.

Mobilfunkvertreter

Mobilfunkvertreter

Die enge Wendeltreppe im Turm bringt mich nach oben. Der Aufgang ist eindeutig nicht für Menschen in Motorradbekleidung gebaut worden. Der Ausblick entschädigt für die Mühen. Kargopol liegt wie auf einer Landkarte unter mir. Die Sicht auf die umliegenden Seen und Wälder ist umwerfend.

Kargopoler Aussichten

Kargopoler Aussichten

Kargopol ist eine der ältesten Städte Nordrusslands. Gegründet wurde der Ort wahrscheinlich um 1150. Lange Zeit eine bedeutende Handelsstadt, verlor Kargopol mit dem Bau der Eisenbahnstrecke Moskau-Archangelsk, die weit am Ort vorbeiführt, letztendlich seine Bedeutung. Übriggeblieben sind elf Kirchen in der traditionellen russischen Bauweise. Obwohl äußerlich renovierungsbedürftig, ist das Innere dieser Bauwerke beeindruckend. Eine riesige Wand voller Ikonen. Die Kunstwerke sind teilweise siebenhundert Jahre alt, wie mir die freundliche Dame am Eingang erklärt. Es ist eine eigenartig mystische Stimmung. Der Innenraum der Kirche ist in Dämmerlicht gehüllt und ich frage mich unwillkürlich, was die diese uralten Kunstwerke im Laufe der Zeit gesehen haben. Ikonen sind typisch für die russisch-orthodoxe Kirche und erscheinen mir wie aus einer anderen Welt.

Ikonen einer fernen Vergangenheit

Ikonen einer fernen Vergangenheit

In ihrer Abstraktheit wirken sie fesselnd und abweisend zugleich. Ich kann mich dem schwer entziehen und lasse es einfach auf mich wirken. Die Religion ist in Russland immer noch tief verwurzelt. Ähnlich wie in Polen sehe ich Menschen jeden Alters die Rituale vollziehen, angefangen vom selbstverständlichen Bekreuzigen beim Betreten und Verlassen der Gebäude. Und es sind auch Menschen, die ihre Ausbildung und Erziehung in sowjetischen Zeiten erhalten haben. Wie kann es sein, dass diese Religiosität nach sieben Jahrzehnten konsequenter Unterdrückung und Negierung wieder derartig auflebt? Oder haben wir im Westen auch hier ein falsches Bild? Ich denke, der Glauben wurde auch zu kommunistischen Zeiten nie völlig aufgegeben, auch wenn ihn viele Menschen aus nachvollziehbaren Gründen verleugneten. Wahrscheinlich haben auch Parteimitglieder insgeheim gebetet. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Und wieder habe ich das Gefühl, dass die kommunistische Zeit für dieses Land ein böser Spuk war, von dem es sich langsam erholt. Diese Erholung dürfte noch Jahrzehnte dauern. Ich verlasse die Kirche und mache mich wieder auf den Weg, den Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Die Erzengel

Die Erzengel

Was mir jetzt bevorsteht, kenne ich von der Hinreise nach Archangelsk. Viele Kilometer unbefestigte Straßen, die ein Martyrium für URAL darstellen. Da müssen wir jetzt durch. Zum Glück hat es etwas geregnet. Das ist jetzt wirklich ein Glück, denn die leicht „angefeuchteten“ Pisten lassen sich besser fahren. Kein Staub mehr und die Bodenwellen sind etwas weicher.

Die Piste hinterlässt Spuren

Die Piste hinterlässt Spuren

Das Motorrad wechselt seine Farbe. Ich glaube, es war ursprünglich mal schwarz. Jetzt hat es so ein undefinierbares Grau. Irgendwann erreiche ich kurz vor Pudosh die Grenze der Republik Karelien, ein autonomes Gebiet innerhalb der Russischen Förderation. In Pudosh noch einmal tanken und dann geht es weiter in Richtung Medveshegorsk. Es ist schon spät und ich übernachte noch einmal bei meinen Lieblingstieren. Deutschland hat das Halbfinale erreicht, erfahre ich noch. Auch schön.

05.07.2013

Wie komme ich hier nur raus? Medveshegorsk gibt mir Rätsel auf. Die Ausschilderung ist sehr reduziert und ich muss die Straße nach Tipinitzy finden. Da will ich hin. Aber wo geht es aus Medveshegorsk raus? Ich sehe nur Schilder für Murmansk und Petrosavodsk. Nach drei Ehrenrunden in der Stadt tue ich das Naheliegende: ich frage. Und schon geht es weiter. Es ist doch manchmal so einfach. Tipinitzy liegt am Ende einer Halbinsel im Onegasee. Ich mache ich auf Unwegsamkeiten gefasst. Nichts dergleichen passiert erst einmal. Gute Straße, teilweise direkt am Ufer des Onegas entlang. Sehr schön. Im letzten Drittel wird es dann allerdings wie erwartet. Der Asphalt ist alle, wiede mal. Es geht auf den sattsam bekannten wilden Pisten weiter. Die karelische Landschaft, Dörfer ziehen vorbei, die manchmal etwas verloren aussehen.

Karelische Aussichten

Karelische Aussichten

Ich frage mich langsam, ob ich das im Internet gebuchte Gästehaus in Tipinitzy wohl vorfinden werde. Egal, das Problem, wenn es denn eines ist, wird sich vor Ort lösen lassen. Zwischendurch regnet es. Dann passiert wieder eine dieser Sachen, die man nicht für möglich hält. Fünfundzwanzig Kilometer vor dem geschätzten Ende der Welt überholt mich ein Volvo mit einem mit Baumaterial beladenen Anhänger. Der Fahrer hat offensichtlich Probleme mit seiner Ladung. Ich überhole noch zwei oder dreimal, wenn er das Zeug wieder neu befestigt. Bei einer dieser Begegnungen hebt er die Hand. Ich halte und wir kommen ins Gespräch. Ob ich nach Tipinitzy wollte? „Da!“ Ins Gästehaus? „Da!“ Es ist der Besitzer ebendieses Gästehauses. Er hätte sich schon gedacht, dass ich sein angekündigter Gast sei, denn soviele Motorräder mit deutschem Kennzeichen gibt es in dieser Gegend nicht. Nun ist mir erstmal die Sorge genommen, dieses Haus zu finden. Wir kämpfen uns gemeinsam weiter. Am Ziel angekommen, entpuppt sich Tipinitzy als typisch russisches Dorf, teils bewohnt, teils verfallen. Das Gästehaus allerdings ist eine Perle. Gemütlich, den Umständen entsprechend komfortabel.

Komfort pur

Komfort pur

Konstantin ist ein Fotograf aus Sankt Petersburg, der aber momentan nicht arbeitet, sondern hier draußen lebt und das Haus vermietet. Kurze Einweisung in alle Örtlichkeiten und dann wird die Banja angeheizt. Konstantin fragt mich noch, ob ich gesund genug für die russische Variante bin. Da mir keine Fehlfunktionen bekannt sind, kann es losgehen. Die russische Sauna, so wird mir erklärt, sei nicht so heiß wie die finnische aber dafür feuchter. Die übliche Massage mit Birkenzweigen gibt es natürlich auch. Zwischendurch Bier und gesalzenen Trockenfisch. Es ist nach den Tagen draußen eine Wohltat. Wir unterhalten uns noch so über dies und jenes. Er erklärt mir, der Anblick des Motorrades mit Beiwagen und deutschem Kennzeichen hätte bei ihm sofort Bilder aus Kriegsfilmen wachgerufen. Dieser Eindruck lag nicht in meiner Absicht aber so scheint es nun mal zu sein. Irgendwann falle ich ins Bett.

06.07.2014

Kischi. Das Museum auf einer Insel im Onegasee. Zu Konstantins touristischem Angebot gehören auch Bootsausflüge dorthin. Das Wetter ist ideal. Sonnenschein und kaum Wind. Wir fahren über einen spiegelglatten Onega. Wir reden weiter. Konstantin, der aus der Nähe von Odessa stammt, scheint sich für dieses einfache Leben hier draußen entschieden zu haben. Seine Familie lebt allerdings in Sankt Petersburg. Nur zeitweise sind seine Frau und seine zwei Kinder hier. Wovon denn die Leute hier leben, will ich noch wissen. Viele sind Pensionäre, erklärt er mir. Dazu kommen ein wenig Tourismus, der Anbau und Verkauf von Kartoffeln und dem, was der Wald so bietet. Beeren, Pilze und natürlich die Jagd. Es wäre allerdings eine sehr ernsthafte Entscheidung so hier leben zu wollen. Nach fünfundvierzig Minuten werden die Kirchen von Kischi am Ufer sichtbar. Was nun folgt, ist eine gigantische Show russischer Holzarchitektur. Es ist ähnlich wie in Malye Koreli, nur um ein vielfaches größer.

Kischi

Kischi

Die Insel ist ungefähr vier Kilometer lang und sehr angenehm gestaltet. Weit auseinandergezogen stehen dort Kirchen und Bauernhäuser aus verschiedenen Epochen und Gegenden. Es ist ein langer Spaziergang in einer wirklich schönen Umgebung. Kischi liegt in einer Bucht des Onega mit vielen Inseln. Man wandert durch die russische Geschichte. Die meisten der Gebäude wurden aus den umliegenden Gemeinden zusammengetragen und in Kischi seit den sechziger Jahren wieder restauriert. Anschaulich werden die Bauweise und auch die verwendeten Zimmermannstechniken erklärt. Aber auch hier liegt der Schatten Stalins. Die eigentliche Kirche Kischis war bis 1937 in Betrieb. Dann die übliche Geschichte. Der damalige Vorsteher wurde vom NKWD, den stalinistischen Sicherheitsorganen, verhaftet, erschossen und die Kirche, die Jahrhunderte existierte, geschlossen, Ende und Sowjetmacht. In Tipinitzy gibt es ein Denkmal für die hiesigen Opfer des Terrors der Jahre 1937 und 1938. Wir wandern mehrere Stunden über die Insel. Nach der Rückfahrt noch ein Bad im Onega, danach Erholung pur. Nochmal Kraft tanken für die letzte Etappe auf der Fahrt von Dresden nach Murmansk. Abendsonne und ein stilles russisches Dorf irgendwo ganz weit weg.

Das Dorf

Das Dorf