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„Es wird mittlerweile als erwiesen angesehen.“

Dieser Satz begegnet mir in Variationen in den Medien täglich mehrmals. Und ich mag ihn mittlerweile nicht mehr lesen noch hören. Worum geht es? In der Ukraine, also in Europa, tobt ein Bürgerkrieg. Ein Krieg, dessen Ursachen lange zurückliegen. Nicht erst die Ereignisse auf dem MAIDAN haben ihn verursacht und auch nicht die „kalte“ Annexion der Krim durch Russland. Dies waren höchstens die Auslöser. Wer verstehen will, warum die Kriegsparteien aufeinander einschlagen, muss bis in die Zeit der Sowjetunion zurückgehen und ebenfalls die Jahre unmittelbar nach ihren Zerfall betrachten – siehe „Stalins Erben und die Arroganz der Sieger“. Die Situation in der Ukraine ist, nach allem, was man in den Medien erfährt, eine Katastrophe, in allererster Linie für die Bevölkerung. Die Separatisten kämpfen, die ukrainische Armee kämpft, und zwischendrin versuchen Menschen zu überleben, die dort einfach nicht mehr weg können. Und das Überleben scheint von Tag zu Tag schwerer zu werden. Mit dem Abschuss der malaysischen Boeing – wer auch immer diesen Abschuss zu verantworten hat- sollte auch dem letzten Ignoranten klar geworden sein, dass dies kein Konflikt von regionaler Bedeutung mehr ist. Die direkten Kriegsparteien können sich wohl nicht mehr einigen. Zuviel Unvorstellbares ist auf beiden Seiten passiert. Dieser Konflikt kann nur noch von außen beendet werden. Durch eine Einigung des Westen, in diesem Falle der EU und der USA auf der einen Seite und Russlands auf der anderen. Und hier wird aus meiner Sicht ein unverantwortliches Spiel gespielt- von beiden Seiten. Seit Monaten hört man nichts Anderes als Schuldzuweisungen und Drohungen. Der Westen verhängt Sanktionen und die russische Regierung kontert mit der Erhöhung der Energiepreise. Wenn nicht soviele Menschen darunter leiden würden und soviel europäische Zukunft auf dem Spiel stehen würde, könnte man fast darüber lachen. Es erinnert mich an eine Geschichte aus meinem Lesebuch der ersten Klasse – „Die zwei kleinen Ziegenböcke“. Am Ende lagen beide im Wasser.

Ja, Russland hat riesige Demokratiedefizite. Siebzig Jahre Sowjetmacht stalinistischer Prägung waren ein Fluch und ein Albtraum für dieses Land. Es wird noch lange brauchen, um diese Zeit wirtschaftlich und gesellschaftlich zu überwinden. Zu groß ist noch die Überzeugung, dass das Ende der Sowjetunion und der damit verbundene Verlust des Supermachtstatus‘ ein historisches Unrecht ist. Ich habe sie in Sankt Petersburg, in Archangelsk, in Murmansk gesehen, die Parolen „Danke, Großvater für den Sieg!“ An Autos von jungen Menschen, deren Großväter im Krieg wahrscheinlich selbst noch Kinder waren. Hier entsteht, oder existiert wahrscheinlich schon, eine gefährliche Bunkermentalität. Wir gegen die. Und der Westen tut viel dafür. Ich denke, das System Putin ist für Russland auf Dauer nicht gut. Aber das Verhalten des Westens, seine Politik, seine Medien arbeiten ihm zu. Russland wird mit Schuldzuweisungen überhäuft, Beweise werden angekündigt und bleiben dann aus. „Es wird mittlerweise als erwiesen angesehen!“ Ist es erwiesen oder nicht? Der Abschuss eines Passagierflugzeuges ist eine Katastrophe, die man sich als Nichtbetroffener wohl kaum vorstellen kann. Und wenn es aus Kalkül geschieht, ein ungeheuerliches Verbrechen. Bevor man allerdings jemanden eines derartigen Verbrechens bezichtigt, sollte man Argumente, sprich Beweise, haben. Das Verbrechen ohne Beweise zu instrumentalisieren ist moralisch fragwürdig. Niemand reagiert gelassen, wenn er mit einem derartigen Vorwurf konfrontiert wird. Die ZEIT geht hier, wie so oft, wieder einmal mit „gutem“ Beispiel voran. „Der Krieg wird nicht am Absturzort entschieden“– so der Titel eines Kommentares von CARSTEN LUTHER vom 31.07.2014.

ZITAT: Doch parallel zu den territorialen Verlusten wird die militärische Ausstattung der Rebellen besser. Nur so konnte es zum Abschuss des Malaysia-Airlines-Passagierflugzeugs kommen. ZITATENDE.

Es steht also bereits fest, zumindest für Herrn Luther, wer hier der Verbrecher ist. Demgegenüber meldet die FAZ am 02.08.2014 dass Ermittler aus den Niederlanden und Australien am Absturzort nach Ursachen suchen. Vielleicht sollte Herr Luther sein Wissen den Ermittlern zur Verfügung stellen.

Zugegeben, die ukrainische Armee geht auch nicht gerade zimperlich vor, wie der ZEIT-Artikel festhält:

ZITAT: Human Rights Watch macht auch der ukrainischen Armee Vorwürfe: Sie habe wenig präzise Grad-Raketen (die aber ebenfalls von den Separatisten eingesetzt werden) in dicht bewohnten Gebieten eingesetzt. Die Organisation spricht von Kriegsverbrechen. ZITATENDE.

Aber das geht für Herrn Luther völlig in Ordnung:

ZITAT: Die zusammengewürfelten und teils schlecht ausgebildeten ukrainischen Truppen kämpfen mit allem, was ihnen zur Verfügung steht. ZITATENDE.

Denn sie haben ja keine Wahl:

ZITAT: Mit jedem Raketenwerfer, jeder Kiste Munition, jedem Kämpfer, der von russischer Seite über die Grenze ins Land gelangt, hat die Ukraine immer weniger die Wahl: Sie muss ihre Militäroffensive gegen die Separatisten im Osten fortsetzen. Denn Russland ist offenbar nicht bereit, irgendetwas zu unternehmen, um den Nachschub für die Milizen zu unterbinden oder sich auch nur von ihnen deutlich zu distanzieren. ZITATENDE

Auch hier werden die alten Vorwürfe ohne jeden Beleg wiederholt. Um es einmal noch einmal klarzustellen: wenn Russland die Separatisten unterstützt, ist die internationale Gemeinschaft gefordert dies zu unterbinden. Genauso wie sie dann gefordert ist, das Vorgehen der ukrainischen Armee und der Nationalgarde zu stoppen. Die Vorwürfe müssen allerdings belegt werden, sonst wird genau das Gegenteil erreicht. Jede Seite fühlt sich im Recht und ermutigt, weiter zu machen. Und inzwischen sterben Menschen für perverse Machtspiele aller beteiligten Parteien. Mit Artikeln wie dem oben zitierten leisten die Medien der Eskalation Vorschub. Wir haben Meinungsfreiheit. Solange keine Gesetze verletzt werden, darf jeder schreiben, was er will. Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass niemand per se die Deutungshoheit über Ereignisse beanspruchen kann. Behauptung statt Argumentation als Stilmittel? Behauptungen sollte man im eigenen, journalistischen, Interesse belegen können. Es ist mittlerweile als erwiesen anzusehen, dass Teile der deutschen Medienlandschaft ein massives Glaubwürdigkeitsproblem haben. Und das ist für eine demokratische Gesellschaft, die wir trotz aller Schwierigkeiten sind, niemals gut.

 

Ist Steinmeier enttäuscht und wütend?

Ist Steinmeier enttäuscht und wütend? Düpiert Putin Steinmeiers Ostpolitik? Ja, glaubt man dem Artikel von Jörg Lau auf der Titelseite der ZEIT. Ein seltsamer Artikel, der in einigem Widerspruch zum Interview mit ebendiesem Frank-Walter Steinmeier steht, nur eine Seite weiter. Jörg Lau wiederholt gebetsmühlenartig die immer gleichen Stereotype:  Russland provoziert, pro-russische Kräfte bringen das Land an den Rand des Bürgerkriegs, Putin destabilisiert die Ukraine…  Die übliche, undifferenzierte Schwarzweiß-Malerei, die Art Erklärungen zu liefern, ohne sie belegen zu können – nicht ungewöhnlich für die ZEIT in den letzten Wochen. Man könnte es gähnend zur Seite legen.

Aber das Interview selbst ist dann doch ganz anders, wesentlich ausgewogener.  Das macht den Artikel von Jörg Lau ziemlich lächerlich. Man erlebt einen nachdenklichen, reflektierenden Politiker, der auch darüber spricht, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist zwischen Russland und dem Westen. Die osteuropäische Erweiterung der NATO, die dieser Tage oft als Begründung für die Haltung der russischen Regierung herangezogen wird, betrachtet er differenziert.  Ja, aus seiner Sicht war die Osterweiterung richtig, zu schlecht waren oft die Erfahrungen der  osteuropäischen Staaten mit der Sowjetunion. Ob daraus zwingend die Aufnahme der ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrages in NATO folgen musste, darüber kann man geteilter Meinung sein. Wichtig erscheint mir folgende Aussage im Interview:

ZITAT: Leider ist es im NATO-Russland-Rat nicht gelungen, die unterschiedlichen Interessen und Erwartungen offen und aufrichtig auszudiskutieren. Sooft ich dabei war, blieb das im protokollarischen Ritual hängen. Das war ein Fehler. ZITATENDE

Ein ganz entscheidender Satz, den ich mir so schon früher gewünscht hätte. Die heutige Situation in der Ukraine ist die Summe der gemachten politischen Fehler der letzten zwanzig Jahre – auf beiden Seiten. Den Anderen akzeptieren, trotz unterschiedlicher Auffassungen, das ist beiden nicht gelungen. Dem Westen nicht und auch nicht Russland. Irgendwie hatte man das Gefühl, der Kalte Krieg war nie so richtig vorbei  – das Misstrauen der Amerikaner den Russen gegenüber und umgekehrt. Da hat sich keine Seite mit Ruhm bekleckert. Hier ist Europa gefordert. Eben nicht der dumpfen Russenphobie zu folgen, die scheinbar die amerikanische Politik bestimmt, sondern auf Russland zu zugehen, ohne sich anzubiedern. Das ist eine verdammt schwere Aufgabe. Hier kommt ein weiteres Statement Steinmeiers ins Spiel. Auf die Frage, ob er eine Intervention Russlands in der Ostukraine befürchtet (eine Frage, die uns wohl alle umtreibt), antwortet er:

ZITAT: Das wäre ein schwerer Fehler. Ich glaube übrigens auch nicht, dass es einen Masterplan und ein festes Drehbuch gibt, dem das russische Vorgehen folgt. Es spricht vieles dafür, dass Russland das eigene Verhalten situativ fortentwickelt. Dabei ist Moskau auch getrieben von nationalen Stimmungen, die von der russischen Führung selbst gefördert wurden. ZITATENDE

Das ist erstaunlich. Es widerspricht dem, was von den meisten (deutschen) Medien, und leider auch Politikern seit Wochen suggeriert wird – der russische Bär wartet angeblich nur darauf, seine alte Sowjethöhle wieder zu beziehen. Über dieses Statement Steinmeiers sollten auch polnische, baltische und tschechische Politiker zumindest nachdenken.  Wer situativ handelt, mit dem kann man (meistens) verhandeln.

Ja, Russland hat seine eigenen Interessen und Europa wäre schlecht beraten, immer und überall nachzugeben. Die gewaltsame Verschiebung von Grenzen muss im 21. Jahrhundert einfach ein Tabu sein, da hat Steinmeier uneingeschränkt recht. Die Situation in der Ukraine ist verfahren aber sie ist auch eine Chance. Dazu Steinmeier:

ZITAT: Aber uns in Europa hat es (die Krimkrise-d.A) geholfen, die Bedeutung von Außen- und Sicherheitspolitik wieder zu entdecken. Die gegenwärtige Krise zeigt, dass eine in Jahrzehnten aufgebaute und scheinbar tragfähige Sicherheitsstruktur der ständigen Absicherung und Erneuerung bedarf.. .Aber auch die NATO muss sich selbst prüfen und klären, ob sie die richtigen Schwerpunkte setzt. ZITATENDE

Es ist an der Zeit, sowohl für den Westen als auch für Russland (und in Zukunft vielleicht auch für China) zu erkennen, wie man Interessenskonflikte miteinander löst-ohne Säbelrasseln und ohne hohle Kriegsrhetorik und ohne Unterwürfigkeit und Anbiederei. Weder Russenphobie noch platter Antiamerikanismus helfen da weiter.

Insgesamt ein sehr lesenswertes  Interview. Ernüchternd, aber Enttäuschung oder gar Wut, wie uns Herr Lau suggerieren wollte? Fehlanzeige! Eher stellt sich die Frage, ob es hier nicht um Enttäuschung darüber geht, dass Frank-Walter Steinmeier nicht in die absonderliche Kriegsrhetorik verfällt, die man mittlerweile seitens der Medien (auch seitens der ZEIT) gewöhnt ist.  Nochmal ein Zitat des Interviews:

ZITAT: Ich weiss nicht, warum manche geradezu begierig auf den Beweis des Scheiterns kooperativer Politikmodelle warten. Konfrontation und Selbstisolation sind kein Weg und schon gar kein Ausweg. ZITATENDE