RAJALTA RAJALLE – Ein Tag zwischen den Grenzen

Finnland auf Skiern durchqueren. Seit dreißig Jahren findet im März in Finnland ein siebentägiger Skimarathon von der russischen zur schwedischen Grenze statt. Sieben Tage und rund 430 km, die einem alles abverlangen. Der zweite Tag führt von Kuusamo nach Taivalkoski.Von Grenze zu Grenze

Go West 2014

Irgendwo in Finnland

Irgendwo in Finnland – für mehr Fotos auf’s Bild klicken

Gedämpftes Reden oder Schweigen -die Stimmung ist nicht mehr so euphorisch wie gestern. Es ist 8:00 morgens, wir sitzen im Bus und sinnieren darüber, wie der heutige Tag wohl ablaufen wird. Wir, das sind circa fünfzig Skilanglaufenthusiasten auf dem Weg quer durch Finnland von der russischen zu schwedischen Grenze. Es ist der zweite Tag dieses Skimarathons von Kuusamo nach Tornio. Vierhundertdreißig Kilometer müssen an sieben Tagen absolviert werden. Sieben Tage, die uns eine Menge abverlangen. Der gestrige Auftakt- 40km- steckt uns noch in den Knochen. Plötzlich sind Muskelgruppen zu spüren, von deren Existenz man bisher nichts ahnte. Eine vergleichbare Veranstaltung gibt es wohl in Mitteleuropa nicht. Die Ursprünglichkeit der Natur ist hier allgegenwärtig. Wenn man allein unterwegs ist, bekommt man schnell ein Gefühl von Einsamkeit. Man merkt, dass hier einfach niemand ist. Und die RAJALTA RAJALLE HIIHTO- Von Grenze zu Grenze ist Skilaufen pur. Reduziert auf das Wesentliche. Nichts lenkt ab, die Vorwärtsbewegung  zählt.

Der Winter 2014 war selbst in Finnland außergewöhnlich. „This is the warmest winter since years” kommentiert Annita Jaakola, eine der Organisatoren der RAJALTA RAJALLE (deutsch von Grenze zu Grenze). Und entsprechend sind die Bedingungen. Ständige Plusgrade verwandeln den wenigen Schnee an vielen Stellen in eine unansehnliche Masse. Seen und Flüsse sind teilweise aufgetaut. Das Wachsen der Skier gerät zum Glücksspiel. Sechzig Kilometer mit „verwachsten“ Brettern können zum Albtraum werden.

Wir sind da- das heißt am Anfang der heutigen Strecke. Aussteigen und Ausrüstung sortieren. Das Wetter ist ungemütlich. Tief hängende Wolken, ein unangenehmer Gegenwind und immer wieder Schneeregen. Genussskilaufen sieht wohl anders aus. Sechzig Kilometer stehen heute auf dem Plan. Letzte Fragen und Gespräche. Meistens dreht es sich darum, wie jeder denn wohl seine Bretter präpariert hat. Es geht erstmal entlang einer stillgelegten Bahnstrecke, die noch aus Kriegszeiten stammt- kilometerlang schnurgeradeaus. Die Gruppe teilt sich. Die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer ist eines der verblüffendsten und interessantesten Dinge dieses Skiereignisses. Hier startet der Leistungssportler neben dem Skiwanderer. Diese heterogene Mischung funktioniert bestens. Der Weg ist das Ziel- ähnlich dem Pilgern. Was zählt, ist das individuelle Können unabhängig von Platzierungen auszureizen. Ankommen- und das nach Tagesetappen von durchschnittlich 60km. Und sich am nächsten Morgen wieder in die Loipe zu stellen.

Ich lasse mir Zeit und starte  als Letzter. Die ersten Kilometer gehen gut. Nach zwei bis drei Kilometern habe ich meinen Rhythmus gefunden und die Nachwirkungen des gestrigen Laufes verschwinden mit steigender Betriebstemperatur. Der Schnee ist nicht toll aber irgendwie geht es. Steigungen gibt es zum Glück auf diesem Teilabschnitt nicht. Langsam kommen auch andere Läufer in Sicht. Beim ersten Servicepunkt habe ich zum Ende des Feldes aufgeschlossen.

Kurzes Gespräch- es scheint noch gute Stimmung zu herrschen. Ich treffe Volker, einen Schauspieler aus Dresden. Der ist gut gelaunt, wie immer. Die Verpflegungspunkte sind auch so eine Institution. Leute aus der Region stellen sich bei Wind und Wetter an die Strecke und bieten Getränke und einen kleinen Imbiss an. Ich bewundere sie immer wieder für ihre Geduld.

Nach einigen Kilometern verlassen wir die Komfortzone. Die Strecke führt über freies Feld, im Sommer sind das wahrscheinlich Seen und Sümpfe. Jetzt noch einigermaßen gefroren. Der Wind, vermischt mit Schneeregen, kommt jetzt direkt von vorn. Und auch die Topographie ist gegen uns- giftige, langgezogene Anstiege und eine von Motorschlitten zerfahrene Spur. Psychologisch genial- man kann sie kilometerweit einsehen. Kleine Menschen am Horizont wirken ermutigend wenn man genau weiß, dass man dort noch hinmuss. Und der Wind pfeift. Dann der Zwischenfall. Während ich mich eine Abfahrt hinunter taste, sehe ich unten den finnischen Skiguide schon das Zeichen zum Abbremsen geben. Kurz vorher hatte mich bereits ein Motorschlitten mit einer leeren Trage überholt. Und dann sehe ich die Bescherung. Leo aus der Schweiz steht neben der Loipe, eingehüllt in eine goldfarbene Rettungsfolie. Als ich näherkomme, sehe ich sein blutverschmiertes Gesicht und seinen Arm in einer provisorischen Schlinge. Helfer sind zum Glück schon da. Später erfahre ich, dass er sich beim Sturz auf dieser Abfahrt den Arm gebrochen hat. Der Motorschlitten fährt in zum nächsten Servicepunkt, wo der Krankenwagen wartet. Leo, er ist ca 70, ist allerdings einer dieser drahtigen Altsportler, die so schnell nichts umwirft. Am letzten Tag der Tour läuft er wieder- 25 km mit einem Stock und einem Arm in der Schlinge

Endlich ist der Servicepunkt für die Mittagspause erreicht. Eine warme Suppe, einen Kaffee, kurz durchatmen. Ich setze mich lieber nicht ans Feuer. Umso schwerer wird es dann, wieder hoch zukommen. Und auch hier nochmal der Tribut an die äußerst schwierigen Schneebedingungen – so gut wie jeder legt noch einmal Klister auf, das Einzige, was in diesen Tagen für die Steigzonen der Skier wirklich geeignet ist. Es sind noch 30km bis zum Ziel. Die letzten Kilometer haben unendlich Kraft und Nerven gekostet aber das ist noch kein Grund zum Aufhören.

Nach dem Mittagessen findet zunächst ein kompletter Szeneriewechsel statt. Eine schnurgerade, herrlich gespurte Loipe. Das Ziel kommt in Sicht.

Ziel in Sicht

Ziel in Sicht

Und dann passiert es. Ungefähr 14 Kilometer vor dem Ziel ist auf einmal komplett die Luft raus. Nichts geht mehr. Kann gerade noch so einen Fuß vor den anderen setzen. So abrupt habe ich das noch nicht erlebt. Rächt sich jetzt die stark verkürzte Mittagspause? Dazu kommt, dass das Gelände wieder schwierig wird. Also nochmal hinsetzen, den Notproviant verzehren, Klister auf die Bretter geben und vorsichtig weiter. Langsam springt der Motor wieder an. Sechs Kilometer vor dem Ende noch ein Servicepunkt. Ein letzter Tee und etwas Schokolade. Auf meine Frage, ob es denn jetzt „downhill“ ins Ziel geht, ernte ich lautes Gelächter vom freundlichen Helfer. „It’s your wish!“ erklärt er mir feixend. Und die letzten Kilometer verlangen nochmal alles. Kurze steile Anstiege und ebensolche Abfahrten im ganz schnellen Wechsel. Irgendwann wünsche ich mir nur noch, dass es vorbei ist. Und das ist es dann wirklich. Nach 60 Kilometern sitze ich glücklich im Bus, der mich ins Hotel bringen wird. Für heute reicht es. Allerdings war das erst Tag zwei von sieben. Jetzt freue ich mich erstmal auf ein schönes Zielbier und auf die vielen Gespräche mit den andern Skiläufern aus Skandinavien, dem Baltikum, aus Russland, aus den Vereinigten Staaten, aus Frankreich, Irland und anderen Staaten. Gelebtes Multikulti in der Loipe. Auch das macht den Reiz dieser Veranstaltung aus.

Die RAJALTA RAJALLE HIIHTO- Von Grenze zu Grenze- geht weiter.

Was an den einzelnen Tagen passierte, seht Ihr hier.

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