Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XII

28. Juni

„Das ist Provinz!“ Ich habe noch Tatjanas Worte in Sankt Petersburg im Ohr. Nach Tagen auf der Landstraße freue ich mich auf Leben. Die Abgeschiedenheit dieses Landes hat mich mehr vereinnahmt, als ich vorher annahm. Das Zeitgefühl kommt aus dem Rhythmus. Der Tag zerteilt sich in Tankpausen, sonst nichts. Die Metropole erscheint als Oase. Archangelsk hat auch diese Ausstrahlung der östlichen Städte, die irgendwo zwischen der Vergangenheit und einer undefinierten Zukunft liegt. So, als müsste man zwischen Ost und West eine neue Himmelsrichtung erfinden. Aber anders als Sankt Petersburg, welches in einer Art Dauerlauf zu leben scheint, ist hier alles gelassener. Und dennoch alles andere als tot. Gelassener, wie mir scheint. Die Menschen, denen ich begegne, sind auf eine sympathische Art unaufgeregt. Die Bewegungen, die Gespräche, alles scheint eine Spur geruhsamer zu gehen als in Sankt Petersburg. Und es gibt sie noch, die Kwasverkäufer.

Auf der Strasse

Auf der Strasse

Ich mache mich auf den Weg, diesen Ort zu erkunden. Archangelsk hat seine Geschichte. Lange Zeit war der Ort der nördlichste Hafen von Bedeutung, den Russland hatte. Im Jahre 1584 gegründet, war es die Handelsmetropole jener Zeit in der der Region. Über Archangelsk liefen die ersten Kontakte des russischen Reiches unter Iwan, dem Schrecklichen nach England.

Das alte Archangelsk

Das alte Archangelsk

Englische Seefahrer strandeten 1553 in Archangelsk auf der Suche nach einer von Portugal unabhängigen Seepassage nach Indien. Die Seefahrt prägt das Stadtbild bis heute. Darstellungen von Schiffen sind allgegenwärtig. Auch die Denkmäler der Zeit der Interventionskriege 1918-1920, als Truppen der Entente in Archangelsk landeten, und die allgegenwärtigen Monumente des Zweiten Weltkriegs sind oft Seefahrern gewidmet.

Wir lieben Archangelsk

Wir lieben Archangelsk

Die Architektur der Stadt ist ein Querschnitt aus Stein und Holz durch die Jahrhunderte. Die alten russischen Holzhäuser stehen zwischen monströsen Betonblöcken der Sowjetzeit und der Einheitsarchitektur aus Stahl und Glas der Neuzeit.

Denk mal!

Denk mal!

Ein gewisser Herr Uljanow, bekannter unter seinem Künstlernamen Lenin, beherrscht den zentralen Platz der Stadt.

Der alte Mann

Der alte Mann

Und der vergangene Krieg ist auch hier sehr präsent. Doch Archangelsk lebt. Menschen sind unterwegs, erstaunlich viele junge Familien mit Kindern, im Habitus von ihren westeuropäischen Altersgenossen kaum zu unterscheiden. Skater teilen sich die Uferpromenade mit Radfahrern und Joggern, aus den Restaurants dröhnt der übliche russische Pop. Und über allem liegt eine eigenartige Gelassenheit. Selbst der Verkehr, der hier durch eine schier unendliche Zahl klappriger Busse eines Einheitstyps dominiert wird, scheint erträglich.

Rush Hour

Rush Hour

Die Stadt wirkt einladend. Eine Überraschung erlebe ich beim Einkauf. Die Alkoholabteilung ist abgesperrt. Ein Schild sagt mir, dass an diesem Wochenende jede Sorte von Alkohol nur zwischen zehn und dreizehn Uhr verkauft wird. Der Grund ist der Stadtgeburtstag, der an diesem Wochenende stattfinden soll. Noch ist davon nichts zu sehen. Ich genieße die Mitternachtssonne an der Uferpromenade.

Mitternacht an der Dvina

Mitternacht an der Dvina

29. Juni

Etwas liegt in der Luft. Eigentlich will ich heute ein Stück ins Umland fahren. Aber die Straße vor dem Hotel ist gesperrt. Menschen strömen Richtung Innenstadt. Musik ist zu hören. Keine Zeit für’s Umland, das kann warten. Heute ist die Party zum Stadtgeburtstag. Vierhundertdreißig Jahre Archangelsk und scheinbar ist der ganze Ort auf den Beinen. Gegenüber des Herrn Uljanow ist eine riesige Tribüne aufgebaut. Ich lasse mich mittreiben. Und komme genau zum richtigen Zeitpunkt. Auf der Tribüne werden die Feierlichkeiten offiziell eröffnet. Die Führung der Stadt hält Reden. Der Bürgermeister, die örtliche Duma-Abgeordnete, der Oberhirte, Gäste aus Partnerstädten.

Mit dem Segen von ganz oben

Mit dem Segen von ganz oben

Emden ist die Partnerstadt von Archangelsk, wer hätte das gedacht. Zum Glück fassen sich alle kurz und dann kann es losgehen. Tanzdarbietungen, wie man sie in ihren Dimensionen wahrscheinlich nur im Osten kennt. Die Stadt Archangelsk und ihre Geschichte sind das Thema. Historische Figuren wie Iwan, der Schreckliche und Katharina, die Große betreten die Bühne. Die Geschichte der Stadt rollt musikalisch über die Bühne. Der Platz ist voll. Auf der Uferpromenade ein anderes Bild. Hier laufen die alternativen Darbietungen. Straßenmusiker spielen zwischen Schaschlykständen. Und hier ist wieder Osten. Die Menschen jeden Alters bleiben bei den Gitarrenspielern stehen und singen mit.

Die alernative Party an der Dvina

Die alternative Party an der Dvina

Strassenmusik in Archangelsk, russische Lagerfeuerromatik, Lieder von Aufbruch und Unterwegssein. Offensichtlich sehr populär hier. Der perfekte Tag, auch das Wetter spielt mit. Auffällig ist allerdings, dass oft aus Papiertüten getrunken wird… Offensichtliche Opfer dieser Tüten sehe ich allerdings erstaunlich wenige. Zurück zum Herrn Uljanow. Auf der Bühne läuft das russische Folkloreprogramm. Der traditionelle Gesang der Frauenchöre und halsbrecherische Tanzdarbietungen der Herren. Und auch hier wird im Publikum mitgesungen und getanzt. Der Platz ist voll. Familien lagern mit Picknickkörben im Gras. Hin und wieder blitzt der Nationalstolz auf.

Flagge zeigen

Flagge zeigen

Dann das Konzert, der Abschluss. Die russische Band DDT spielt und wieder zeigt die Reaktion der Umstehenden, dass die Jungs ziemlich populär sind. Gute Texte, soweit ich sie verstehe. (siehe den Link)

Der Tag geht zu Ende.

30. Juni

Es kracht. Nichts weiter passiert, der Busfahrer hat den Gang eingelegt. Scheint auch keine Ungeschicklichkeit gewesen zu sein. Das Geräusch ist einfach an jeder Bushaltestelle zu hören. Ich will raus- und zwar in’s Umland. Malye Koreli ist das Ziel. Ein Freilichtmuseum, das einen Querschnitt durch vier Jahrhunderte russischer Holzarchitektur verspricht. Also los. Die Dinger sehen außen so abenteuerlich aus wie drinnen.

Öffentlicher Nahverkehr

Öffentlicher Nahverkehr

Die Fahrt im Vehikel kostet in der Stadt in der Stadt achtzehn Rubel, egal wie weit man fährt. Das sind ungefähr vierzig Cent. Die Fahrt zum Museum kostet mich einen Euro. Es ist ein Fest für die Wirbelsäule. Die Straßen passen hervorragend zur digitalen Federung des Fahrzeuges. Die Russen nehmen es gar nicht wahr. Irgendwann sind wir da.

Bus Stop im Nirgendwo

Bus Stop im Nirgendwo

Ich bezahle meine einhundert Rubel Eintritt und bin drin. Ein erstaunliches Museum, welches schon 1964 gegründet wurde. Aus umliegenden Dörfern wurden alte Häuser und Kirchen zusammengetragen und in einem herrlichen Waldareal rekonstruiert. Nach einer Weile fühlt man sich in die Vergangenheit versetzt. Unwillkürlich fallen mir die russischen Märchenfilme ein und es würde mich nicht wundern, käme die Baba-Jaga auf dem Besen um die Ecke.

Hier wohnen Mascha und der Bär

Hier wohnen Mascha und der Bär

Dazu tragen sicher auch die Frauen bei, die die zugänglichen Gebäude in traditionellen Trachten erklären. Allerdings kam ich da schnell an die Grenzen meiner Russischkenntnisse. Und trotzdem, es war einfach schön. Ein Tag zum dahinmeditieren. Tut gut…

Abtauchen

Abtauchen

 

Zurück mit dem allerliebsten Autobus. Die Schaffnerin, ja, die fahren in jedem Fahrzeug mit, ist allerdings sowjetisch. Nur das notwendigste reden und möglichst im Befehlston. Aber derartige Umgangstöne sterben auch hier langsam aus. Die Leute, auch in den Geschäften, sind im Allgemeinen sehr freundlich und hilfsbereit. Die Sowjetzeit wächst sich langsam raus. Ich schlendere noch so durch die Stadt besorge mir noch was zu essen und sehe zu, wie die Fußballer für hohe EKG-Werte sorgen. Morgen werde ich mich den weiteren Verlauf der Reise kümmern. Es geht weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Nach Archangelsk zu fahren, war eine gute Entscheidung. Poka!

 

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