Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IX

18. Juni

Die Stadt springt mich an. Mein Quartier ist in Sichtweite des Newski-Prospektes. Das Epizentrum. Die ruhigen baltischen Tage sind plötzlich nur noch eine Erinnerung. Hier steppt der Bär, und zwar der russische. Oder vielleicht doch nicht dieser, denn diese Stadt ist auf den zweiten Blick anders. Anders als die russischen Städte, die ich kenne, selbst anders als Moskau.

Summer in Piter

Summer in Piter

Schon der Baustil spricht eine eigene Sprache. Russischer Klassizismus. Sankt Petersburg atmet Geschichte und Kultur, es vibriert. Ich werde mir auch diese Stadt erlaufen, wie Częstochowa, wie Warschau. Was als erstes auffällt, sind die unzähligen Anbieter von Bootstouren durch die Kanäle der Stadt Peters, des Ersten. Sehr deutlich werden die Passanten per Lautsprecher geworben, doch bitte eines der Boote zu besteigen. Ich könnte mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen, ich wüsste sofort, wann ich eine der vielen Kanalbrücken überquere. Patriotische Busse kreuzen meinen Weg.

Danke für den Sieg!

Danke für den Sieg!

Ich lasse mich durch die unüberschaubare Menschenmenge treiben, ohne Ziel. Ein Torbogen, der mir vage bekannt vorkommt. In unzähligen Filmen über die Oktoberrevolution schon gesehen. Ich durchquere ihn, und stehe plötzlich auf einem riesigen Platz. Vor mir der Winterpalast, ein Hotspot der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die unser Leben über Jahrzehnte so sehr geprägt hat.

Winterpalast

Winterpalast

Hier nahm eine Geschichte ihren Anfang, die wahrscheinlich hoffnungsvoll begann und im blutigen Albtraum des Stalinismus endete um letztendlich bankrott die Bühne wieder zu verlassen. Ich kann mich der historischen Wirkung dieses Platzes nicht richtig entziehen. Was wäre geschehen, wenn dieser legendäre Sturm auf das Winterpalais, der zum Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung, die den Zar abgelöst hatte, führte, missglückt wäre? Wie wäre es weitergegangen?

Alexandersäule

Alexandersäule

Heute ist dieser Platz ein touristisches Highlight in Sankt Petersburg, oder Sankt Peterburg, wie es in Russland offiziell heißt, oder Piter, wie es die Leute hier nennen. Fotografierende Menschen, Skateboarder, Radfahrer. Apropos, Radfahrer- so viele wie hier hab ich in noch keiner russischen Stadt gesehen.

Shooting

Shooting

Kein Unterschied zu westeuropäischen Metropolen. Und unübersehbar die Staatsmacht, Polizei und sogar OMON-Leute, die Truppe für’s Grobe des russischen Innenministeriums. Weiter geht es… Die Admiralität, auch ein Begriff aus der Revolutionshistorie. Glückliche Brautpaare im Park, relaxte Menschen auf den Parkbänken. Auffallend ist, dass es keine alkoholaffinen Problembürger und keine Bettler gibt. Alles ist sauber, aufgeräumt, geordnet. Hier wurde wohl ein Mikrokosmos für Besucher geschaffen. Übrigens, was den Polen ihr Smartphone ist, scheint den Russen ihr Tablet, oder Planchett, wie es hier genannt wird, zu sein. Allenthalben Menschen, die es vor sich hertragen und damit fotografieren.

Nicht ohne mein...

Nicht ohne mein…

In der Peter-Pauls –Festung finden öffentliche Exerzierübungen von Kursanten, sprich Offiziersschülern, statt. Erinnerungen überkommen mich ( :–) ) und mir tun die Jungs ein wenig leid, die hier dem Gaudi der Touristen dienen. Aber vielleicht sehen sie es selbst auch ganz anders. Und auch hier gibt es urplötzlich diese ruhigen Ecken, wo man kurz durchatmen kann.

Am Ufer

Am Ufer

Weiter zur „Aurora“, auch ein früheres Heiligtum. Sie liegt vertäut an einem Seitenarm der Newa. Der Liegeplatz zeigt einmal mehr, wie grandios eine Idee scheitern kann. Umgeben von Symbolen des faulenden und sterbenden Kapitalismus ist das Schiff eine Touristenattraktion von vielen.

Der Sieg...

Der Sieg…

Mehr Sankt Petersburg schaffe ich dann doch nicht mehr. Die Hermitage hebe ich mir für Morgen auf. Diese Stadt stellt Anforderungen. Der Abend klingt in einem der unzähligen Cafes aus.

19. Juni

Erstmal umziehen. Ich muss nochmal das Quartier wechseln, wenn auch nur einen Hauseingang weiter. Tatjana verwickelt mich in ein längeres Gespräch über das Leben in Sankt Petersburg. Sie ist zwar Rentnerin aber, wie sie sagt, noch nicht zu alt zum Arbeiten. Außerdem sind die russischen Renten wohl nicht so üppig. Das Gespräch führt mich an die Grenzen meiner Russischkenntnisse, manchmal auch darüber hinaus. Sie ist, nach ihren Worten, ein Mensch der Sowjetzeit. Ja, klar konnte man kaum in’s Ausland fahren und klar gab es dieses und jenes nicht. Man hat gelebt, in einer Stadt, die auch zu Sowjetzeiten etwas Besonderes war. Leningrad war keine Provinz. Der Stolz auf die Kultur und die Geschichte „ihrer“ Stadt ist nicht zu überhören. Historische Plätze, an denen Dichter wie Puschkin und Gogol arbeiteten, direkt vor der Tür zu haben, das gehört auch einer Lebensqualität. Und Kultur gab’s zu Sowjetzeiten meistens umsonst, besplatno, oder für kleines Geld.

Ich ziehe also ins Nebenhaus, in eine Wohnung, die durchaus auch in der Dresdner Neustadt sein könnte. Ein älteres Ehepaar vermietet hier ein Zimmer.

Übernachtung

Übernachtung

Die übliche Stahltürenprozedur, dann wieder los, in die Menge. Heute soll es die Hermitage sein. Lange Schlangen vor den Ticketschaltern. Ich probiere mein Glück an einem der Ticketautomaten, die draußen stehen. Offensichtlich habe ich das Kleingedruckte wieder nicht richtig gelesen. Der Automat spuckt zwei Karten aus. Und jetzt? Auch kein Problem, ich verkaufe das zusätzliche Ticket kurzerhand an ein russisches Paar, welches gerade den Nebenautomaten bearbeitet. Der Handel geht über die Bühne, vierhundert Rubel und ein Ticket wechseln den Besitzer. Dann die Hermitage. Es erschlägt mich geradezu. Kultur und Kunst im XXL-Format. Und wieder Menschen über Menschen, was den Kunstgenuss etwas schmälert. Besonders die Gemälde, die Porträts, haben es mir angetan. Es ist, als ob mich lebendige Menschen anblicken. Die Ausstellung über das Leben am Zarenhof des 19. Jahrhunderts fasziniert mich. Was für eine Pracht und welcher Luxus! Wenn ich bedenke, dass der russische Bauer zu dieser Zeit kaum dem Mittelalter entkommen war, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts hier einen ihrer Ausgangspunkte hatten. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde in Russland erst im Jahre 1861 offiziell abgeschafft.

Nach drei Stunden kann ich nicht mehr. Raus an die Luft! Ich möchte unbedingt den Smolny sehen, meine letzte Station auf der Reise in die revolutionäre Vergangenheit. Das Gebäude liegt doch etwas abseits. Auf dem Weg dahin laufe ich durch Gegenden, die dann doch nicht zu den touristischen Highlights gehören. Es wird ruhiger und auch die Restaurierung der Gebäude wird hier und da noch etwas dauern. Es wird, für meine Begriffe, russischer. Es ist irgendwie schwer zu beschreiben aber russische Städte haben so ein Fluidum, welches ich im Zentrum von Sankt Petersburg nicht so richtig ausmachen kann. Eine Mischung aus Morbidität und Geschäftstüchtigkeit, schwer zu sagen.

Der Smolny an sich ist nicht so gigantisch. Ein normales Verwaltungsgebäude im klassizistischen Stil inmitten einer Parkanlage. Aber die Fahrbahn heißt hier tatsächlich Straße der Diktatur des Proletariats, Marx und Engels gucken streng von ihren Sockeln und zentral vor dem Gebäude die Statue eines gewissen Gospodin Uljanow alias Wladimir Iljytsch, der in irgendeine lichte Zukunft weist.

Die Zentrale

Die Zentrale

Hier war also die Kommandozentrale. Und wieder kommt mir in den Sinn, was die Ereignisse, die im Jahre 1917 hier stattfanden, ausgelöst haben. Welche Verheißungen gemacht wurden und in welchem Elend es dann endete. Es regnet, ich mache mich auf den Rückweg.

2 Gedanken zu „Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IX

  1. Strawstwutje Towarisch Micha,
    Es macht Spaß Dir virtuell zu folgen.
    zwei Fragen:
    Hast Du in Tartu den Brückentest gemacht? Nein, ich meine nicht den, der vor 2-3 Jahren durch den Blätterwald rauschte , sondern die Mutprobe der dortigen Studenten, mit dem Motorrad über den Brückenbögen zu fahren. Ok, Dein Gespann ist etwas zu breit ….

    Habt ihr auf dem Newskiprospekt die Merkelraute (erfolglos) geübt ?

    Beste Grüße
    Toi toi toi für die nächsten 1000 km
    Wulf

    1. Hallo Wulf,
      durch meinen Spass mit dem Zündschloss, ist mein Zeitplan durcheinandergeraten. Für Tartu selbst war leider keine Zeit mehr, da ich ja am 17. abends einen Termin in Piter hatte. Estland ist aber einen Ausflug wert. Merkelraute…??? Muss passen…:-)

      Gruß

      Micha

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