Wir gucken nur noch dahin, wo etwas nicht funktioniert

11. März 2016. Ein rotes Sofa in einem ehemaligen Laden mitten in Dresden-Pieschen. Vor dem Fenster führt ein kahlgeschorener Mann seinen Kampfhund spazieren. Ich bin mit Susann Rüthrich verabredet, Mitglied des Bundestages für die SPD. Sie vertritt den Wahlkreis Meißen und betreut Dresden und die Sächsische Schweiz. Das Sofa steht in ihrem Bürgerbüro. Wie sieht sie unsere Probleme rund um die Flüchtlingsfrage? Und wofür steht die SPD?

MD:       Haben wir aus Ihrer Sicht in Deutschland eine Flüchtlingskrise?

SR:      Nein, ich würde dann von einer Krise reden, wenn wir die Renten kürzen müssten, Hartz IV einschränken, wenn die Kinder hier nicht mehr in die Schule gehen könnten, wenn das öffentliche Leben für uns hier Einschränkungen hätte. Das sehe ich alles nicht. Es kommen Menschen zu uns, die in ihrem Leben, in den Ländern, aus denen sie kommen, wirklich krisenhafte Zustände erleben. Wir schaffen es in Europa nicht, uns auf ein einheitliches Vorgehen zu einigen. Wir sind dran, aber wenn wir es nicht hinkriegen, dann hat die Europäische Union eine Krise. Wir haben in Deutschland keine Flüchtlingskrise sondern wir stehen vor der enormen Herausforderung, mit den Menschen, die nun einmal da sind, umzugehen.

MD:       Heißt Krise aber nicht auch, für ein gesamtgesellschaftliches Problem keinen Konsens zu finden?

SR:         Es  ist keine Flüchtlingskrise, es ist unabhängig von den Geflüchteten.  Wir hatten eine Menge Situationen, wo ich den Eindruck hatte, dass unsere Wertebasis nicht mehr klar ist. PEGIDA ist da nur die Spitze des Eisberges. Die gesellschaftlichen Schwierigkeiten, einen Dialog zu führen, die Entfremdungsgefühle,  gab es schon länger. Sie sind durch die große Anzahl von Geflüchteten seit dem letzten Sommer noch verstärkt worden.

MD:       Die Flüchtlinge als Katalysator bestehender Probleme?

SR:         Genau! An den Geflüchteten lässt sich eine ganze Menge festmachen. Probleme in der politischen Kultur, die Frage, ob sich die Menschen noch ernst genommen fühlen, ob sie mitgenommen werden, die  gab es ja schon vorher, als die Zahlen der Geflüchteten noch ganz andere waren. Im Jahre 2014 waren es ja auch nicht gerade wenige und da haben wir noch nicht von einer Flüchtlingskrise geredet.

MD:       Sie sagten, wir haben in sozialen Fragen noch keine Einschränkungen zu befürchten. Das wird von rechtspopulistischen Strömungen auch nicht direkt bestritten. Es wird jedoch die Angst geschürt, dass genau das eintritt.

SR:         Wir müssen aufpassen, dass wir hier keine sich selbst erfüllenden Prophezeiungen schaffen, indem wir den Untergang des Abendlandes propagieren und dann jedes Zeichen nur noch daraufhin deuten. Wenn wir es jetzt ordentlich machen, liegen darin Chancen. Solange ich mich nur auf den Standpunkt stelle, dass ich nicht will, dass die Situation so ist, dass ich die Situation „wegdefinieren“ will, solange komme ich nicht  zu konstruktiven Entscheidungen. Wie will ich denn damit umgehen? Man redet nur noch von Zahlen, von einer Million, von 400.000 oder weiß der Kuckuck von wie vielen. Die entscheidende Frage ist doch, was ich mit denen mache. Was mache ich mit denen, die wieder gehen müssen, weil sie kein Aufenthaltsrecht bekommen, was mache ich mit denen, die hierbleiben?  Die Antworten auf diese Fragen hoffe ich demnächst mal in einem Integrationsgesetz gebündelt zu finden. Jeder, egal ob er wieder geht oder hierbleibt, soll sagen können, das Deutschland ein gutes Land ist, dass es ihm hier gut ergangen ist. Es wäre die größte Gefahr für uns alle, dass die Leute, egal ob sie gehen oder hierbleiben, das Gefühl der Abwertung oder Ablehnung mitkriegen.

MD:       Dass sie einen schlechten Eindruck mitnehmen?

SR:         Wenn Menschen, die wieder zurück gehen, den Eindruck haben, sie seien hier schlecht behandelt worden, dann spricht sich das herum. Wir können aber im eigenen Interesse sehr viel mehr dafür tun, dass die Leute, die zurückgehen, um ihr Land wieder aufzubauen, wenn dieser unsägliche Krieg endlich mal zu Ende ist, sagen: Es ging uns gut im „Westen“, wir sind anständig behandelt worden, dort leben gute Menschen. Das dürfte den Konflikt der Kulturen, so es ihn überhaupt gibt, doch etwas aufweichen. Wir haben dann Fürsprecher vor Ort. Wir haben es natürlich auch in der Hand, sämtliche Vorurteile gegen den Westen zu bestätigen. So dass sich Muslime sagen: Das sind unsere Feinde, das wussten wir schon immer. Das wäre das Gegenteil von dem, was ich mir wünschen würde.

MD:       Aber wie gehen wir mit den Verlustängsten der eigenen Bevölkerung um? Gerade im Umland von Dresden, wo es tatsächlich Probleme mit rechten Strukturen gibt? Geringverdiener und Geringqualifizierte, Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind, fürchten eine Konkurrenzsituation.  Was sagt man denen?

SR:         Dazu kann man eine Menge sagen. Ich bin ja aus dem Wahlkreis Meißen. Noch vor zehn oder acht Jahren hätte ich die Sorgen geteilt. Es wäre schwierig gewesen. Wir hatten noch ganz andere Arbeitslosenzahlen als heute. Jetzt sind wir bei sieben oder acht Prozent. Leute, die jetzt akut arbeitslos werden, sind relativ schnell wieder im Job. Wir haben ein Problem mit denen, die schon länger arbeitslos sind. Ich glaube aber nicht, dass die von Menschen ausgestochen werden, die ohne Sprachkenntnisse und ohne anerkannte Abschlüsse hierher kommen. Für die müssen wir das erst einmal organisieren. Organisieren, dass sie einen ordentlichen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen.

MD:       Und wenn sie dann einen Zugang haben?

SR:         Dann sind sie genauso im Jobcenter angesiedelt, wie der „normale“ Arbeitslose auch. Dann wird geguckt, welche Vermittlungshemmnisse, so ist der offizielle Ausdruck, noch bestehen. Es wird dann versucht, eine Qualifizierung oder Vermittlung hinzukriegen. Aber sie sind nicht besser gestellt. Was für alle gilt, ist der Mindestlohn. Wir werden als Sozialdemokraten bis zum Letzten dafür kämpfen, dass der Mindestlohn nicht abgeschafft wird. Sonst gäbe es tatsächlich Sozialdumping. Wenn ein Geflüchteter einen Arbeitsplatz kriegt, dann muss der den zu denselben Bedingungen kriegen, wie ihn ein Deutscher auch kriegt und nicht für weniger. Denn dann unterscheidet sich der Unternehmer für den, der weniger kostet. Diese Situation sollten wir unter allen Umständen vermeiden. Der Mindestlohn gilt für alle und der hat gerade im ländlichen Bereich, da wo die Einkommen noch prekärer sind, enorm viel gebracht. Das Lohngefüge ist spürbar angehoben worden. Ich kann die Verlustängste individuell sogar nachvollziehen, aber es muss niemand Angst haben, dass er deshalb jetzt weniger verdient. Handwerker beispielweise haben in ländlichen Gebieten große Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden, wenn sie ihren Betrieb aus Altersgründen verkaufen müssen.  Handwerker haben heute schon Schwierigkeiten, Azubis zu finden, weil Azubis ja doch in die Städte, in die Industrieberufe gehen. Wer heute halbwegs ordentlich seinen Schulabschluss hinkriegt, der hat noch nie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Es braucht doch keiner Angst zu haben, von Geflüchteten ausgestochen oder ausgebootet zu werden.

MD:       Das klingt logisch und schlüssig aber warum haben dann rechtspopulistische Parteien wie die AfD einen derartigen Zulauf? Wie schaffen sie es, dass viele Menschen für deren  irrationale Gedanken zugänglich sind? Warum kriegt es die „etablierte“ Politik nicht hin, ihrer Argumentation zu folgen? Warum rennen  die Leute zur AfD?

SR:         Man spürt nicht den tatsächlichen Verlust. Man setzt ihn sich zusammen aus Gerüchten, Erfahrungen und aus irgendwelchen blöden Aussagen aus den Ämtern. Nach dem Motto: Wir können jetzt dem Verein XY keine Förderung mehr geben, denn wir müssen jetzt alles für die Geflüchteten ausgeben. Solche Aussagen gibt es. Klar haben es die Kommunen schwer, ihre Haushalte ordentlich auf die Reihe zu kriegen, weil sie für die Unterbringung der Geflüchteten Mittel zur Verfügung stellen müssen. Aber das sind Dinge, die man lösen kann. Bei den einzelnen Menschen ist tatsächlich kein wirklicher Verlust angekommen. Sie haben Angst davor, dass es passieren könnte. Das Entscheidende sind gar nicht Verlustängste, sondern Ängste davor, dass das Leben sich verändert. Vor 26 Jahren hat sich deren Leben schon einmal komplett verändert. Du bist jetzt gerade wieder irgendwie angekommen und hast sicheren Boden unter den Füssen, so halbwegs sicheren Boden, und jetzt scheint sich wieder alles zu ändern. Darauf haben, glaube ich, viele Leute keine Lust. Aber Veränderung findet ja eigentlich permanent statt. Eine demokratische Gesellschaft verändert sich ja immer.Dass Veränderungen auch positiv sein können, dass sie Chancen bieten können, überträgt sich emotional scheinbar nicht so stark.

MD:       Wie wollen Sie es als SPD schaffen, diese Stimmung zu drehen? Die SPD hat ja momentan ein großes Problem bei Wahlen.

SR:         Wir hoffen mal auf‘s Wochenenden, Frau Dreyer liegt wieder vorn (lacht). An den Abgesang auf die etablierten Parteien glaube ich nicht. (Wahl in Rheinland-Pfalz –MD)

MD:       Aber die Zahlen lügen doch nicht?

SR:         Gut, aber was sagen die Zahlen denn? Die Umfragen bezüglich der Landtagswahlen sagen, dass 10-15% AfD wählen werden. Dass heißt immer noch, dass 85-90 % derer, die zur Wahl gehen, AfD eben nicht wählen und trotz der Situation, die wir gerade haben, eben nicht rechtspopulistisch wählen.

MD:       Derer, die zur Wahl gehen. Aber  wir haben ja ein großes Problem mit Nichtwählern.

SR:         Das stimmt. In Hessen hat man das gerade wieder gesehen. Die AfD Zahlen waren im Zweifel auch deswegen so hoch, weil die „Anderen“ überhaupt nicht erst zur Wahl gehen. Ich als „Wendekind“ verstehe nicht, wie man nicht zur Wahl gehen kann. Man kann sich selber einmischen und zur Wahl gehen, wenn man unzufrieden ist, aber nicht hinzugehen kann ich persönlich nicht verstehen. An die Menschen, die das tun, müssen wir ran. Aber dass alle Menschen, die nicht zur Wahl gehen, rechtspopulistisch sind, daran glaube ich auch nicht.

MD:       Aber ist es nicht so, dass viele Menschen, die nicht zu Wahl gehen glauben, dass sich durch eine Wahl sowieso nichts ändert?

SR:         Man kann, gerade bei Kommunalwahlen, auch den Gegenbeweis antreten. Klar, die einzelne Stimme macht es nicht, aber wenn hunderte und tausende Menschen sagen, dass es auf sie nicht ankommt, dann sind die alle weg. Man sieht es zum Beispiel in Dresden, wie der Weiße Hirsch und wie Prohlis wählt. (Stadtteile in Dresden, MD) Dann kriegt der Weiße Hirsch mehr Stadträte als Prohlis, weil die in Prohlis weniger wählen gehen. Und dann sagen sie, sie sind abgehängt und niemand kümmert sich um sie. Und das ist einfach so schade, dass wir den Menschen suggerieren, es sei nicht so entscheidend, ob man zur Wahl geht.

MD:       Aber Sie müssen doch eine Strategie haben, wie man damit umgeht?

SR:         Ja, wie kriegt man das hin? Ich verwahre mich dagegen zu sagen, dass die etablierten Parteien komplett in der Krise sind, nur weil 15% AfD wählen. Wir haben jetzt Möglichkeiten, Sachen umzusetzen, die wir schon immer gefordert haben. Ärgerlich, dass es erst jetzt kommt. Sozialen Wohnungsbau, wollten wir schon immer haben, haben wir aber nie durchgekriegt. Auf einmal reden alle davon. Gerade erst im Bundestag in Berlin: Wohnungsbauprogramme. Das  ist für eine Stadt wie Dresden bitter nötig, war es schon immer. Jetzt auf einmal kommt eine Dynamik zustande, wo Du das hinkriegst. Schulsozialarbeit, wollten wir schon immer für jede Schule haben, wir haben es aber nie durchgekriegt, weil  immer die Finanzfrage davorstand. Auf einmal stellst Du fest: Oh Mist, wir haben ja ein Integrationsproblem,  auf einmal redet man über Schulsozialarbeit und auf einmal gibt es Integrationsprogramme dafür. Und wie werden denn die ausgebildet, die an Volkshochschulen und so weiter Kurse geben, nicht nur für Geflüchtete? Also freiberufliche Lehrkräfte, die bisher hundsmiserabel bezahlt wurden. Dann stellt man auf einmal fest: Mist, wir brauchen davon ganz schön viele demnächst. Dann müssen wir denen aber auch etwas bezahlen, damit wir die Leute hierher kriegen. Das wäre schon die ganze Zeit sinnvoll gewesen und jetzt machen wir das endlich und das kommt denen zugute, die tatsächlich diese Arbeit machen. Wir gucken nur dahin, wo gerade nur irgendetwas schwierig ist. Wir diskutieren über Obergrenzen oder wir Probleme dadurch lösen, dass wir noch restriktiver werden.  Es geht irgendwie völlig unter, dass auf der fachpolitischen Ebene schon eine ganze Menge an Entscheidungen getroffen wurde.

MD:       Aber es kommt offenbar nicht an.

SR:         Das ist ja gerade auch mein Problem. Diese  ganze öffentliche Hysterie dreht sich nur um Probleme. Anfang der 90er kamen viele Leute aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Kräht danach noch irgendein Hahn? Die Hysterie war genauso groß.  Russenmafia, Drogenhandel und so weiter… Jetzt sagen dieselben Leute: Schickt uns keine Muslime aber Russen könnt Ihr uns noch schicken, an die haben wir uns mittlerweile gewöhnt. In zehn Jahren werden wir uns wahrscheinlich auch an die Menschen gewöhnt haben, die jetzt zu uns geflüchtet sind. Wir müssen aufpassen, gemachte Fehler nicht zu wiederholen.

MD:       Welche?

SR :        Ich hatte neulich einen Kollegen zu Gast, dessen Vater kamaus Südostanatolien. Der war Taxifahrer, ging früh zur Arbeit und kam abends wieder. Der war rassistisch, der war frauenfeindlich, der hat sich nicht um das Grundgesetz geschert. Aber der ist arbeiten gegangen. Alle haben gesagt, er wäre doch integriert, alles bestens. Für den Rest hat sich niemand interessiert. Wie sollen dann Werte an die Kinder und Kindeskinder weiter gegeben werden? Klar muss man tatsächlich auf Integration achten und sich seiner eigenen Werte bewusst sein und die auch selbstbewusst vertreten.

MD:       Und trotzdem müssen Sie es schaffen, die Diskussion von der von Ihnen angesprochenen Sachebene in die Öffentlichkeit zu bekommen, um von der Hysteriediskussion wegzukommen. Wie kann das gelingen?

SR:         Dazu können wir alle beitragen. Ich habe neulich im Bundestag zu Clausnitz und Bautzen gesprochen. Ich rede nicht über den  Mob sondern ich rede über Agenda  Alternative im Erzgebirge, ich rede über Bautzen bleibt bunt ich rede über das Netzwerk Demokratie und Courage. Ich rede über die, die dafür sorgen, dass wir als Gesellschaft zusammenbleiben und uns umeinander kümmern. Wenn wir alle den Fokus ein bisschen mehr darauf legen würden, was gelingt, auf die guten Sachen, dann wäre uns allen viel geholfen. Ich habe ganz selten Medienvertreter vor mir, die nach dem fragen, was gelungen ist, Meistens werde ich nach dem gefragt, was furchtbar und schlimm ist, nach der Krise. Vielleicht ist das ein menschlicher Zug. Wir als Gesellschaft gucken nur noch dahin, wo etwas nicht funktioniert oder vermeintlich nicht funktioniert. Und vergessen alles drumherum. Wir steigern uns in die Krise hinein und schauen wie das Kaninchen auf die Schlange.

MD:       Es gab neulich einen offenen Brief der Initiative „Dresden für Alle“ an Ministerpräsidenten Tillich bezüglich der öffentlichen Anerkennung der freiwilligen Helfer bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation in Dresden. Soweit ich weiß, wurde dieser offene Brief von der SPD Fraktion in Dresden nicht unterschrieben.

SR:         Da müssen Sie die SPD Fraktion fragen. Ich glaube,  Herr Tillich hat den Ehrenamtsempfang, den Sie ansprechen durchaus ernst gemeint. Ich finde, es ist ein schönes Zeichen. Man macht auch Politik, in dem man Symbole setzt. Dass das jetzt gerade in einer Situation kam, wo viele Initiativen gesagt haben, dass ihnen echt nicht nach Feiern zumute ist, angesichts dessen, was hier passiert, dass sie handfeste Unterstützung in ihrer täglichen Arbeit haben wollen und nicht einen Empfang, kann ich auch nachvollziehen.

MD:       Es erschien als Alibiveranstaltung.

SR:         Es kam in dieser Situation als Alibiveranstaltung rüber. Allerdings hat das sächsische Kabinett, auch wenn der Herr Unland das noch nicht ganz einsieht, eine Maßnahmeliste verabschiedet, wo eine Menge drinsteht. Mehr Polizisten, mehr politische Bildung, Geschichte als Pflichtfach in den Schulen, wobei man denkt: Hey, war das etwa weg? Die Initiativen sollen gestärkt werden. Das Integrationsministerium, hat mal mit einem sechsstelligen Betrag angefangen, die haben jetzt ein 30- Millionen- Budget und zusätzliche elf Mitarbeiter. Ich glaube, hier ist ein Prozess in Gang gekommen, wo auch der liebe Koalitionspartner sagt, dass man etwas tun müsse. Im Bundestag haben die Kollegen von der Union während der Debatte um Clausnitz gesagt, dass man die Einheit der Demokratinnen und Demokraten braucht. In dem Moment habe ich heftig genickt und gesagt: Ja, brauchen wir. Aber das möchte ich dann auch jeden Tag sehen. Da möchte ich eben genau die Unterstützung von den konservativen Kollegen haben, genauso klare Aussagen, wenn jemand sich menschenverachtend äußert oder wenn jemand zu menschenverachtenden Haltungen neigt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es gewisse Schwierigkeiten gibt, sich klar abzugrenzen und zu sagen: Bis hierhin und nicht weiter! Als Politiker muss man eine Grenze setzen und das auch sagen. Diese Grenze scheint mir immer mal wieder etwas schwammig zu werden. Da, wo Menschen bedroht werden, wo Bürgerwehren das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen wollen, wo man das Grundgesetzt in Frage stellt, weil Muslime ihre Religion nicht ausüben sollen. Wir haben Religionsfreiheit hier. Wer darüber hinweg geht, muss eine klare Ansage kriegen.

MD:       Das ist jetzt die große Politik.

SR:         Nein, nein, das ist auch am Küchentisch so.

MD:       Stellen Sie sich vor, jemand, den sie seit Jahrzehnten gut kennen, dem sie vertrauen, vertritt Positionen, wie sie auch die AfD äußert. Wo wäre für Sie eine moralische Grenze?

SR:         Ein Limit ist erreicht, wenn andere Menschen abgewertet werden. Dann habe ich den Anspruch, zu widersprechen oder den Raum zu verlassen, weil dann Ende der Fahnenstange ist.

MD:       Wenn es aber Menschen sind, die Sie nicht einfach „verlassen“ können, weil sie zur Familie gehören, weil es enge Freunde sind?

SR:         Man muss seine eigene Haltung erstmal klar haben. Es gibt keine Patentrezepte, aber es einfach unwidersprochen hinzunehmen, führt in die Irre. Wenn es eine gute Beziehung ist, oder eine langfristige Beziehung, in der der Andere auch nicht gehen kann, dann hilft es ja durchaus, seine eigene Position zu verdeutlichen. Dazu muss man aber auch in unserer häufig anzutreffenden Harmoniesehnsucht, die wir ja alle in uns spüren, auch feststellen, dass wenn ein lieber Mensch, den ich lange kenne, Sachen sagt oder tut, die ich nicht akzeptieren kann, …(überlegt) … Das muss unsere Beziehung aushalten, dass ich widerspreche.

MD:       Das ist wohl derzeit ein riesiges Problem.  Der Riss geht querdurch. Man wird mit Aussagen konfrontiert, die von Menschen geäußert werden, von denen man es nie erwartet hätte. Es ging mit Pegida los ist momentan bei der AfD angekommen. Ist dieser Riss nicht mittlerweile zum gesamtgesellschaftlichen Problem geworden?

SR:         Auf jeden Fall. Die Lager stehen sich teilweise auch sehr unversöhnlich gegenüber. Das merken wir ja auch an allen Ecken und Enden. Über dieses Schockmoment, das Sie beschreiben, muss man erstmal hinwegkommen. Man hat den Eindruck, dass  zwei Züge aufeinander zu rauschen. Vielleicht sollte man da auch nicht immer konfrontativ dazwischen gehen, sondern versuchen, die Beziehungsebene anzusprechen und von der aus zu argumentieren. Manchmal hilft es ja, zu sagen,  dass es einem nahegeht und verletzt, wenn ein guter Bekannter auf einmal so redet. Auf der anderen Seite  hilft es, sich bezüglich der Fakten schlau zu machen. Da gibt es ja mittlerweile auch gutes Material. Oder  auch einfach mal ein AfD-Programm zu lesen, zu sehen, was drin steht.

MD:       Nichts?

SR:         Die wollen zum Beispiel den Mindestlohn abschaffen und ein Frauenbild etablieren, bei dem viele Leute erschrecken würden, wenn man dahin wieder zurückfallen würde. Nicht umsonst sind, glaube ich, die Wahlumfragen bezüglich der AfD bei Frauen viel schlechter als bei Männern.

 MD:       Das ist ja das Paradoxe. Die AfD spricht die einfachen Menschen an, die aber am wenigsten davon hätten, würde die AfD ihre Ziele umsetzen.

SR:         Es ist nicht der Inhalt, die Leute werden eher emotional angesprochen. Es kann auch sein, dass der normale Politikbetrieb die Leute abstößt. Ich kenne das selber von politischen Veranstaltungen, die eigentlich nur so von oben herab sind. Vorne steht der Experte, die Expertin, erzählt was vom Pferd, und drei Leute aus dem Publikum dürfen dann vielleicht nochmal eine Frage stellen. Da fühlen sich viele Leute gar nicht abgeholt. Deshalb versuchen wir, beteiligungsorientierte Veranstaltungen zu machen. Wir hatten neulich einen Talk im Wehner-Werk, wo wir uns mit den Leuten zusammen in einen Raum gesetzt haben und die einfach von ihrem Ehrenamt erzählt haben, vom THW, Kinder- und Jugendring der Stadt , also ganz bunt. Was denn deren Probleme sind, und was sie sich eigentlich wünschen würden. Dann kommt man in einen sehr selbstverständlichen Austausch und man kann sich ganz viel mitschreiben, was die Leute eigentlich wollen und was sie brauchen. Wenn wir uns vorne hinstellen und sagen: „im Übrigen, das Ehrenamt …“ und dann anderthalbstündige Vorträge über das Ehrenamt halten, dann stehen alle vor uns und zeigen uns einen Vogel. Wozu sind sie dahin gekommen? Nur um sich etwas anzuhören? Es muss schon ein Austausch sein, dass wäre mein Wunsch. Dazu braucht man natürlich auch Leute, die sich austauschen wollen. Dass viele Leute gefrustet sind und gar nicht mehr reden wollen, das ist tatsächlich ein Problem, das wir irgendwie versuchen müssen zu knacken.

MD:       Aber wäre nicht ein Schlüssel dazu, das man das quasi- Ein-Parteien-System in Sachsen endlich mal knackt?

SR:         An uns soll es nicht liegen!

MD:       Doch, es liegt an Ihnen! Ihre Argumentation klingt schlüssig aber die CDU sitzt seit 25 Jahren fest im Sattel und die SPD bleibt als Partei blass. Die Schwarzen haben das Sagen in Dresden und Sachsen.

SR:         Die Stadtratsmehrheit haben sie zu ihrem Leidwesen gerade nicht. Sie können sich irgendwie nicht daran gewöhnen, dass ihnen diese Stadt nicht mehr gehört. Wir konzentrieren uns häufig auf die guten Inhalte und die guten Konzepte, streiten uns wunderbar auf Parteitagen, wie man es nun genau macht und vergessen die emotionale Ebene. Die Leute wollen sich mitgenommen und angesprochen fühlen. Da könnte man durchaus noch ein bisschen nachlegen und die CDU hat das als klare Marschrichtung etabliert. Sie sagen: Wir sind die Heimatpartei, uns gehört Sachsen, wählt uns, vertraut uns, wir kümmern uns. Das lädt die Leute auch nicht gerade zum Mitmachen ein.

MD:       Eine Käufer-Lieferanten-Beziehung?

SR:         Genau! So habe ich sächsische Politik lange erlebt: Setzt Euch hin, seid ruhig und vertraut uns. Genau aus dieser Gemengelage kommt jetzt ein sehr großer Frust. Man darf seine Meinung äußern aber das, was die Ministerien und die dominierende Partei vorgibt, schlägt sowieso alles. Man darf seine Sachen einbringen aber es findet keinen Niederschlag in der Politik. Es ist ein Problem in der politischen Kultur. Die, die betroffen sind, müssen auch auf das Ergebnis Einfluss nehmen können und das muss über das „Alle fünf Jahre im Land Wählen“ hinausgehen. Das wäre übrigens auf Bundesebene auch mein Ansatz. Weswegen wir zum Beispiel auch für direkt-demokratische Beteiligungsformen auf Bundesebene sind. Die gibt es überall sonst, in Kommunen, beim Land, in Europa, beim Bund hingegen nie. Das finde ich auch keinen schönen Zustand.

MD:       Ist es in diesem Zusammenhang klug, eine Koalition mit der CDU einzugehen?

SR:         Mitregieren ist immer besser als nicht mitzuregieren. Da kann man Entscheidungen selbst mit treffen und selber auf das Handeln der Regierung Einfluss nehmen.

MD:       Oder man wird nur als Juniorpartner wahrgenommen, der mal mitdarf. Alles was beispielsweise von der Großen Koalition kommt, hat in den Augen vieler Menschen die CDU erbracht.

SR:         Ja, klar. Der Erfolg bleibt dann an der Kanzlerin oder am Ministerpräsidenten hängen. Das mag so sein, aber die Alternative, einfach zu sagen, wir regieren nicht mehr mit, wir lassen Koalitionen platzen, heißt ja nicht, dass es danach besser wird. Zum Thema Koalitionsvertrag auf Bundesebene haben wir eine Mitgliederbefragung gemacht und die überwiegende Mehrheit hat sich für den Koalitionsvertrag entschieden. Und ich war heilfroh darüber. Bei aller Kritik, womit wollen wir denn jetzt die Wähler überzeugen, wenn wir, obwohl wir den Mindestlohn gekriegt haben, obwohl wir andere Sachen, die wir wollten, im Koalitionsvertrag verankert haben,  sagen: Im Übrigen…machen wir aber nicht. Wir gehen nicht mit in die Regierung, obwohl wir jetzt umsetzen könnten, was wir eigentlich wollten, zum Thema Frauenquote, zum Thema Leiharbeiter. Ein Problem ist aber tatsächlich, dass man neun Sachen gut machen kann, aber die zehnte einem die Glaubwürdigkeit wieder unter den Füssen wegreißt. Weil es Problempotential hat, weil das vielleicht eine blöde Entscheidung war, weil sie nicht gut kommuniziert war. Das ist das, womit ich immer so ein wenig hadere, dass wir zum Beispiel auch bei der Asylpolitik, bei Ausländerrecht usw. in den letzten Jahren wichtige Sachen gut nach vorne gebracht haben.  Bleiberechtsregelung, Unterbindung von Kettenduldungen, die Dinge waren richtig gut. Und die zehnte ist jetzt: Wir verschärfen das Asylrecht. Da sagen alle, die sich bisher für eine Liberalisierung eingesetzt haben: Siehst du, da habt ihr aber mitgemacht.

MD:       Fehlt der SPD vielleicht eine Führungspersönlichkeit, die die Dinge auch „verkaufen“ kann?

SR:         Man kann sich natürlich wünschen, dass die eierlegende Wollmilchsau vom Himmel fällt und jemand da ist, den wir alle ganz großartig finden…

MD:       Politik wird aber auch von Emotionen getragen.

SR:         Emotionen kann jemand wie Sigmar (Gabriel, MD) auch gut bedienen nur ist es manchmal auch so, dass man den Eindruck hat, dass er meine Gefühle jetzt gerade nicht anspricht. Darauf kann man sehr schwer Einfluss nehmen. Bei Malu Dreyer habe ich jetzt gerade den Eindruck, sie steht für eine gewisse soziale, zugewandte Art, die kann das mit ihrer Person verkörpern und die Leute nehmen es ihr ab. Olaf Scholz hat in Hamburg Wahlen gewonnen mit seiner spröden, eher rationalen Art. Das muss eben auch passen. Es ist schwierig, sich zu wünschen, dass jetzt einer für alle die richtigen Emotionen anspricht. Aber es stimmt, man muss den Menschen, die da vorn stehen, vertrauen können und wissen, dafür stehen die, das wollen die, bei denen fühle ich mich gut aufgehoben, die mag ich im Zweifel auch. Bei Angela Merkel wurden im Wahlkampf ganz viele Sachen kritisiert. Alles doof und die Situation ist ganz schlimm … die SPD hat dann immer gesagt, deshalb wollen wir das, das und das machen. Mindestlohn, Pflege stärken usw.Und dann sagen die Leute: Wir finden Angela Merkel aber netter! Dann ändert sich aber im Zweifel an dem, was kritisiert wird nichts.

MD:       Stellen Sie sich vor, sie wären morgen Bundeskanzlerin? Was würde sich ändern?

SR:         Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, durch das Tauschen einer Person ändert sich nicht dramatisch viel. Man hat zwar die Richtlinienkompetenz aber ich glaube, ganz viele Sachen … (überlegt) Der Tanker ist so groß, dass eine Person den nicht komplett woanders hinsteuern kann.

MD:       Sie als Bundeskanzlerin der SPD?

SR:         Ich würde Werbung dafür machen, dass wir die Kinderrechte endlich im Grundgesetz festschreiben und wir für alle Kinder die Kinderrechte in Deutschland tatsächlich gewähren. Egal woher die Kinder kommen Und ich würde versuchen, auf dem Arbeitsmarkt Stabilität reinzukriegen, Tarifbindungen zu erhöhen.

MD:       Bedingungsloses Grundeinkommen für alle?

SR:         Das ist ein innerfamiliärer Konflikt, den wir zu Hause haben Im Gegensatz zu meinem Mann denke ich: Grundeinkommen für alle nicht unter den jetzigen Bedingungen.Aber eine Kindergrundsicherung zum Beispiel, die Kinderarmut ausschließt. Kinderarmut ist ja immer eine Armut der Eltern. Das muss entkoppelt werden. Jedem Kind soll eine bestimmte Infrastruktur kostenfrei zur Verfügung stehen. Es kann in die Kita, es kann zum Musikverein, es kann zum Sportverein, der Verein rechnet das ab und nicht das Kind muss das Geld haben. Plus eine materielle Ausstattung für die Familien, die dann wie ein Familieneinkommen zur Verfügung gestellt wird.

MD:       Schengen, ja oder nein? Europa ohne Grenzen?

SR:         Auf jeden Fall! Die Situation, die wir jetzt haben, heißt ja nicht, dass irgendein Problem gelöst wäre. Wenn Schengen ausgesetzt ist, die Grenzen dicht sind, ist das ein enormer wirtschaftlicher Verlust, weil dieser einheitliche Wirtschaftraum ja nicht umsonst geschaffen wurde. Die Geflüchteten, die jetzt gerade nicht mehr nach Deutschland kommen, die sind jetzt woanders, das heißt, andere Länder haben jetzt das Problem, zum Beispiel Griechenland. Also ist das einfache Grenzen-Dichtmachen überhaupt keine Lösung.

MD:       Auslandseinsätze der Bundeswehr?

SR:         Das kommt darauf an. Ein Auslandseinsatz, der zum Beispiel zum Vernichten von Chemiewaffen dient? Bin ich dafür. Militäreinsätze zur Ausbildung andere Militärs, einer anderen Polizei, anderer Behörden, damit diese bei sich selbst nach halbwegs nachvollziehbaren Standards für Sicherheit sorgen können?Kann man machen. Auslandseinsätze, bei denen Flüchtlingslager vor Terrorgruppen geschützt werden?Darüber kann man nachdenken. Wenn jetzt Auslandseinsätze dahin gehen, dass wir uns mit Bodentruppen in irgendeinen Krieg begeben, und zum Beispiel in Syrien einmarschieren, wo die Gemengelage sowieso schon komplex ist, kann ich mir das nicht vorstellen. Zumal ich mir auch nicht vorstellen kann, dass das der Sache in irgendeiner Weise dient, wenn da jetzt noch ein paar Fremde mit Militär rein rennen. An zu wenig Militär scheitert es da ja nicht. Erst muss eine diplomatische Lösung gefunden werden. Den Frieden mit Blauhelmtruppen abzusichern, darüber kann man nachdenken. Aber nicht über Kampfhandlungen. Für Kampfhandlungen unsere Soldaten irgendwo hinzuschicken, dass hat in den letzten Jahren niemand gemacht und ich hoffe, dass wir da nie hinkommen.

 MD:       Vielen Dank!

 

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