Kategorie-Archiv: Osteuropa

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IX

18. Juni

Die Stadt springt mich an. Mein Quartier ist in Sichtweite des Newski-Prospektes. Das Epizentrum. Die ruhigen baltischen Tage sind plötzlich nur noch eine Erinnerung. Hier steppt der Bär, und zwar der russische. Oder vielleicht doch nicht dieser, denn diese Stadt ist auf den zweiten Blick anders. Anders als die russischen Städte, die ich kenne, selbst anders als Moskau.

Summer in Piter

Summer in Piter

Schon der Baustil spricht eine eigene Sprache. Russischer Klassizismus. Sankt Petersburg atmet Geschichte und Kultur, es vibriert. Ich werde mir auch diese Stadt erlaufen, wie Częstochowa, wie Warschau. Was als erstes auffällt, sind die unzähligen Anbieter von Bootstouren durch die Kanäle der Stadt Peters, des Ersten. Sehr deutlich werden die Passanten per Lautsprecher geworben, doch bitte eines der Boote zu besteigen. Ich könnte mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen, ich wüsste sofort, wann ich eine der vielen Kanalbrücken überquere. Patriotische Busse kreuzen meinen Weg.

Danke für den Sieg!

Danke für den Sieg!

Ich lasse mich durch die unüberschaubare Menschenmenge treiben, ohne Ziel. Ein Torbogen, der mir vage bekannt vorkommt. In unzähligen Filmen über die Oktoberrevolution schon gesehen. Ich durchquere ihn, und stehe plötzlich auf einem riesigen Platz. Vor mir der Winterpalast, ein Hotspot der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die unser Leben über Jahrzehnte so sehr geprägt hat.

Winterpalast

Winterpalast

Hier nahm eine Geschichte ihren Anfang, die wahrscheinlich hoffnungsvoll begann und im blutigen Albtraum des Stalinismus endete um letztendlich bankrott die Bühne wieder zu verlassen. Ich kann mich der historischen Wirkung dieses Platzes nicht richtig entziehen. Was wäre geschehen, wenn dieser legendäre Sturm auf das Winterpalais, der zum Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung, die den Zar abgelöst hatte, führte, missglückt wäre? Wie wäre es weitergegangen?

Alexandersäule

Alexandersäule

Heute ist dieser Platz ein touristisches Highlight in Sankt Petersburg, oder Sankt Peterburg, wie es in Russland offiziell heißt, oder Piter, wie es die Leute hier nennen. Fotografierende Menschen, Skateboarder, Radfahrer. Apropos, Radfahrer- so viele wie hier hab ich in noch keiner russischen Stadt gesehen.

Shooting

Shooting

Kein Unterschied zu westeuropäischen Metropolen. Und unübersehbar die Staatsmacht, Polizei und sogar OMON-Leute, die Truppe für’s Grobe des russischen Innenministeriums. Weiter geht es… Die Admiralität, auch ein Begriff aus der Revolutionshistorie. Glückliche Brautpaare im Park, relaxte Menschen auf den Parkbänken. Auffallend ist, dass es keine alkoholaffinen Problembürger und keine Bettler gibt. Alles ist sauber, aufgeräumt, geordnet. Hier wurde wohl ein Mikrokosmos für Besucher geschaffen. Übrigens, was den Polen ihr Smartphone ist, scheint den Russen ihr Tablet, oder Planchett, wie es hier genannt wird, zu sein. Allenthalben Menschen, die es vor sich hertragen und damit fotografieren.

Nicht ohne mein...

Nicht ohne mein…

In der Peter-Pauls –Festung finden öffentliche Exerzierübungen von Kursanten, sprich Offiziersschülern, statt. Erinnerungen überkommen mich ( :–) ) und mir tun die Jungs ein wenig leid, die hier dem Gaudi der Touristen dienen. Aber vielleicht sehen sie es selbst auch ganz anders. Und auch hier gibt es urplötzlich diese ruhigen Ecken, wo man kurz durchatmen kann.

Am Ufer

Am Ufer

Weiter zur „Aurora“, auch ein früheres Heiligtum. Sie liegt vertäut an einem Seitenarm der Newa. Der Liegeplatz zeigt einmal mehr, wie grandios eine Idee scheitern kann. Umgeben von Symbolen des faulenden und sterbenden Kapitalismus ist das Schiff eine Touristenattraktion von vielen.

Der Sieg...

Der Sieg…

Mehr Sankt Petersburg schaffe ich dann doch nicht mehr. Die Hermitage hebe ich mir für Morgen auf. Diese Stadt stellt Anforderungen. Der Abend klingt in einem der unzähligen Cafes aus.

19. Juni

Erstmal umziehen. Ich muss nochmal das Quartier wechseln, wenn auch nur einen Hauseingang weiter. Tatjana verwickelt mich in ein längeres Gespräch über das Leben in Sankt Petersburg. Sie ist zwar Rentnerin aber, wie sie sagt, noch nicht zu alt zum Arbeiten. Außerdem sind die russischen Renten wohl nicht so üppig. Das Gespräch führt mich an die Grenzen meiner Russischkenntnisse, manchmal auch darüber hinaus. Sie ist, nach ihren Worten, ein Mensch der Sowjetzeit. Ja, klar konnte man kaum in’s Ausland fahren und klar gab es dieses und jenes nicht. Man hat gelebt, in einer Stadt, die auch zu Sowjetzeiten etwas Besonderes war. Leningrad war keine Provinz. Der Stolz auf die Kultur und die Geschichte „ihrer“ Stadt ist nicht zu überhören. Historische Plätze, an denen Dichter wie Puschkin und Gogol arbeiteten, direkt vor der Tür zu haben, das gehört auch einer Lebensqualität. Und Kultur gab’s zu Sowjetzeiten meistens umsonst, besplatno, oder für kleines Geld.

Ich ziehe also ins Nebenhaus, in eine Wohnung, die durchaus auch in der Dresdner Neustadt sein könnte. Ein älteres Ehepaar vermietet hier ein Zimmer.

Übernachtung

Übernachtung

Die übliche Stahltürenprozedur, dann wieder los, in die Menge. Heute soll es die Hermitage sein. Lange Schlangen vor den Ticketschaltern. Ich probiere mein Glück an einem der Ticketautomaten, die draußen stehen. Offensichtlich habe ich das Kleingedruckte wieder nicht richtig gelesen. Der Automat spuckt zwei Karten aus. Und jetzt? Auch kein Problem, ich verkaufe das zusätzliche Ticket kurzerhand an ein russisches Paar, welches gerade den Nebenautomaten bearbeitet. Der Handel geht über die Bühne, vierhundert Rubel und ein Ticket wechseln den Besitzer. Dann die Hermitage. Es erschlägt mich geradezu. Kultur und Kunst im XXL-Format. Und wieder Menschen über Menschen, was den Kunstgenuss etwas schmälert. Besonders die Gemälde, die Porträts, haben es mir angetan. Es ist, als ob mich lebendige Menschen anblicken. Die Ausstellung über das Leben am Zarenhof des 19. Jahrhunderts fasziniert mich. Was für eine Pracht und welcher Luxus! Wenn ich bedenke, dass der russische Bauer zu dieser Zeit kaum dem Mittelalter entkommen war, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts hier einen ihrer Ausgangspunkte hatten. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde in Russland erst im Jahre 1861 offiziell abgeschafft.

Nach drei Stunden kann ich nicht mehr. Raus an die Luft! Ich möchte unbedingt den Smolny sehen, meine letzte Station auf der Reise in die revolutionäre Vergangenheit. Das Gebäude liegt doch etwas abseits. Auf dem Weg dahin laufe ich durch Gegenden, die dann doch nicht zu den touristischen Highlights gehören. Es wird ruhiger und auch die Restaurierung der Gebäude wird hier und da noch etwas dauern. Es wird, für meine Begriffe, russischer. Es ist irgendwie schwer zu beschreiben aber russische Städte haben so ein Fluidum, welches ich im Zentrum von Sankt Petersburg nicht so richtig ausmachen kann. Eine Mischung aus Morbidität und Geschäftstüchtigkeit, schwer zu sagen.

Der Smolny an sich ist nicht so gigantisch. Ein normales Verwaltungsgebäude im klassizistischen Stil inmitten einer Parkanlage. Aber die Fahrbahn heißt hier tatsächlich Straße der Diktatur des Proletariats, Marx und Engels gucken streng von ihren Sockeln und zentral vor dem Gebäude die Statue eines gewissen Gospodin Uljanow alias Wladimir Iljytsch, der in irgendeine lichte Zukunft weist.

Die Zentrale

Die Zentrale

Hier war also die Kommandozentrale. Und wieder kommt mir in den Sinn, was die Ereignisse, die im Jahre 1917 hier stattfanden, ausgelöst haben. Welche Verheißungen gemacht wurden und in welchem Elend es dann endete. Es regnet, ich mache mich auf den Rückweg.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VIII

17. Juni

„Marka?“ kommt es etwas unwirsch aus dem Schalterhäuschen, in dem eine sehr attraktive Vertreterin des russischen Zolls sitzt. Ich versuche grade die estnisch-russische Grenze in Narva zu überwinden, die EU-Außengrenze sozusagen. Sie will für die Zollerklärung den Typ des Motorrades wissen.

„Ural!“. Ihr Blick sagt irgendwas in der Richtung: hör auf mich zu veralbern, Kleiner! Ich bekräftige meine Aussage mit meinem schönsten Lächeln und einem deutlichen „Da!“ Damit entlocke ich doch einer russischen Amtsdame ein freundliches Grinsen. Wenn das kein guter Auftakt ist…. Ansonsten kann man da auf und niederhüpfen, um eine emotionale Regung zu provozieren. Sie will noch wissen, ob die Maschine tatsächlich funktioniert und guckt entschieden ungläubig. Na ja, zum Abschied ernte ich ein sehr freundliches „bye-bye“ und bin durch. Wieder mal in Russland. Weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Und wieder einmal regnet es. Ich mache mich auf schlechte Straßen und mindestens zwei Polizeikontrollen bis Sankt Petersburg  gefasst, eine Erfahrung meiner Tour in den Ural vor sechs Jahren. Nichts dergleichen passiert. Super Straße, die Staatsmacht ist präsent, nimmt aber keinerlei Notiz von mir. Und es ist bitter kalt. Sankt Petersburg empfängt mich mit einem anständigen Stau. Hatte ich erwartet. Und diese Stadt ist riesig. Lange fahre ich durch die betonierten Vororte, die so typisch sind für östliche Städte. Die Ausschilderung ist perfekt. Irgendwann bin ich auf dem Newski Prospekt. Es regnet. Ich bin hundemüde. Und es ist kalt. Eine Dusche, ein Bett und vielleicht ein Bier. Soweit kann man Wünsche reduzieren. Ich irre noch ein wenig zwischen den Kanälen rum, um das Quartier zu finden. Drei Telefonate mit dem Vermieter zur Lokalisierung und dann bin ich da. Tatjana, die überaus fürsorgliche Herbergsmutter, steht schon im Regen auf der Straße und winkt mich in die richtige Toreinfahrt. Petersburger Hinterhof, alles mit Ketten und Stahltüren gesichert, hmmm….mal sehen.

Die Ural steht sicher...

Die Ural steht sicher…

Aber die Unterkunft ist top. Das ist mir schon bei meiner ersten Tour aufgefallen. Man darf sich von den Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen. Sobald man die zweite Stahltür passiert hat, ist man in einer anderen Welt. Zimmer, Küche, Dusche, alles bestens. Schnell noch im Tante-Emma-Laden das Abendbrot einkaufen und dann ist es erstmal gut. Mittlerweile Mitternacht- am nächsten Tag geht’s weiter. Budjet…

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VII

14. Juni

„Yes, it’s okay!“ Diesen Satz werde ich an diesem Abend von Andrejs noch öfter hören. Ich bin gestrandet- vorerst. Es regnet seit gestern.

Herrliches Wetter im Baltikum

Herrliches Wetter im Baltikum

Immer wieder starke Schauer. Dazu teilweise sehr seltsame Straßen.

Russian Runway in Litauen

Russian Runway in Litauen

Die letzte Nacht habe ich im Zelt auf einer Wiese verbracht. Eigentlich völlig in Ordnung, wenn das Wetter etwas besser wäre.

Outside Camping

Outside Camping

Kann man sich nicht aussuchen. Und kurz hinter Riga passiert es. Nach einer kurzen Pause am Straßenrand verweigert die URAL die Kooperation, ohne jede Vorwarnung. Nicht mal die Ladekontrolllampe spielt noch mit, keinerlei Saft. Und nun? Dass gar nichts geht, gibt mir allerdings ein wenig Hoffnung, die Ursache schnell zu finden. Ich beginne: Batterie ok, Sicherungen ok, keine sichtbaren Kabelbeschädigungen, auch ok. Beim Zündschloss werde ich fündig. Simpel gesagt, ein Wackelkontakt. Ich beginne schicksalsergeben, das Teil auseinander zu nehmen. Wenn mir eine dieser winzigen Federn und Kugeln runterfällt, habe ich ein richtiges Problem. Und es regnet. Nach einer Weile habe ich es tatsächlich gesäubert und wieder zusammengebaut. Na, mal sehen. Ja, sie springt an. Zusammenpacken und weiter. Nach fünf Kilometern Ernüchterung. Das gleiche Problem. Es ist mittlerweile 21:00. Zum Verzweifeln. Dass es immer noch regnet, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Dann überholt mich ein Kleintransporter und verschwindet hinter mir im Wald. Ich sehe plötzlich dieses Werbeschild eines Quadverleihes, einhundert Meter entfernt. Ich klopfe dort an die Scheibe, schildere mein Problem und bitte darum, das Motorrad unterstellen und vielleicht sogar die Nacht hier verbringen zu dürfen. „Yes, it’s okay!“ Vorerst gerettet. Andrejs, so heißt der Besitzer des Ladens, kocht mir erstmal einen Kaffee und stellt mir seine kleine Werkstatt samt Inventar zur Verfügung. Das Motorrad könne hierbleiben, bis ich eine Lösung gefunden habe. „Yes, it’s okay!“ Ich bin erstmal unsäglich erleichtert und beginne, das Problem nochmal unter Werkstattbedingungen zu untersuchen. Schnell habe ich rausgefunden, wie ich die URAL unter Umständen kurzschließen könnte, damit ich erstmal weiterkomme. Britta schickt mir von zu Hause per Mail den Schaltplan, an Andrejs Adresse. „Yes, it’s okay!“ Es ist unglaublich.

Neben meinem Gebastel reden wir russisch und englisch noch über Gott und die Welt, über russische Motorräder, die Ukraine und manches andere. Interessant, die Meinung eines Letten zur Ukrainekrise zu hören. Ja, sie fühlen sich von Russland tatsächlich bedroht. Auf meine Antwort, dass sie ja durch die NATO Mitgliedschaft geschützt sind, guckt er ziemlich skeptisch. Russische Medien lügen, dies ist seine feste Überzeugung. Die Russen in Lettland sieht er erstaunlich differenziert. Keine prinzipielle Ablehnung, er habe auch russische Freunde. Russisch rede er aber nur mit denen, die bereit sind, sich zu integrieren und auch lettisch zu lernen. Inzwischen ist es 23:00. Andrejs will nach Hause und ich richte mir mein Nachtlager auf der Partyterasse ein. Strom und Wasser sind da. Erstmal soweit alles gut. Morgen sehen wir weiter.

Nachtasyl

Nachtasyl

15. Juni

Andrejs taucht gegen 11:00 mit Kaffee und Frühstück für mich auf. Inzwischen habe ich mir den Zündschalter nochmal näher angesehen und glaube, die Ursache gefunden zu haben. Eine Stück verschmortes Plastik auf einem winzigen Kontakt. Muss ich gestern wohl übersehen haben. Abkratzen, zusammenbauen, Schlüssel rein- und es läuft! Wieder reisefertig und auch ein wenig stolz, das Problem gelöst zu haben :-). Zumal das Mysterium der russischen Fahrzeugelektrik dadurch mich etwas durchschaubarer geworden ist.

Andrejs

Andrejs

Ich verabschiede mich von Andrejs und gegen 13:30 bin ich zurück im Spiel. Danke, Andrejs!

Die rettende Werkstatt

Die rettende Werkstatt

Was jetzt kommt, ist Genussmotorradfahren in Vollendung. Leere, gut ausgebaute Straßen, herrliche Wald- und Wiesenlandschaft und ein Wetter wie aus dem Intershop.

Tartu taucht auf und ich entscheide mich mal für ein Hotel. Es waren bei allem Ärger zwei sehr interessante Tage. Wieder mal die alte Regel, dass es in der Krise spannend wird. Morgen geht’s weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Erstmal in die Nähe der russischen Grenze, um den Sprung nach Sankt Petersburg zu schaffen.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VI

12. Juni

Stille. Das ist das erste, was mir nach dem Aufwachen auffällt. Nach den hektischen Tagen von Częstochowa und Warschau erlebe ich wahrscheinlich gerade ein Paralleluniversum. Der Campingplatz liegt im Wigierski Park Narodowy. Vorsaison, kaum Leute da- einfach himmlisch. Seen, Wälder und direkt über dem See ragt das ehemalige Kloster des Kamaldulenserordens auf. Die Glocken läuten und früh und abends dringt vom Glockenturm ein getragenes Trompetensolo.

Wigry-Klosterkirche

Wigry-Klosterkirche

Zum Schreien schön. Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Dieser Ort zieht mich magisch an. Hier fällt alles ab. Stress und Hektik sind Fremdworte. Verharren in einen seltsamen Schwebezustand.

Wigry- das kloster und der See

Wigry- das Kloster und der See

So ein Tag könnte ruhig ein paar mehr als nur vierundzwanzig Stunden haben. Motorradfahren vermisse ich nicht so richtig. Jan Pawel ist allerdings auch hier.

Jan Pawel II

Jan Pawel II

Ich besichtige die Gemächer, welche er während seines Besuches in Wigry bewohnte. Die Intensität, mit der dieser Papst dieses Land durchdringt, ist unvorstellbar. Er ist allgegenwärtig. Anders kann man es nicht sagen. Er muss den kommunistischen Machthabern wie eine Geißel gewesen sein. Du sollst keinen anderen Generalsekretär haben neben mir… das ging in Polen wohl nicht.

Ich schlendere so durch den Tag und bin abends etwas wehmütig. Schade, ich hätte Polen gern mehr Zeit auf meiner Reise eingeräumt. Habe aber am 17. Juni einen Termin in Sankt Petersburg. Also weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk V

11.Juni

Es klingt seltsam. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der rechte Zylinder meiner URAL andere (unschönere) Geräusche von sich gibt als der linke. Die Leerlaufdrehzahl stimmt auch nicht mehr, was vor allem im morgendlichen Warschauer Berufsverkehr ziemlich lästig ist. Irgendwann kann ich es nicht mehr ignorieren. Rechts ran und eine kurze Inspektion. Der Schaden ist schnell gefunden. Der Ansaugstutzen aus Gummi am Zylinderkopf ist gerissen. Na ja… ist nicht tragisch, sowas gehört zum Ersatzteilumfang. Dreißig Minuten später läuft es wieder.

Erster Defekt - aber kein Highlight

Erster Defekt – aber kein Highlight

Ich bin auf dem Weg in den polnischen Nordosten, nach Wigry in der Nähe von Suwałki. Wieder einmal endlose Straßen Richtung Litauen und Weißrussland. Nach der Behebung des kleinen Schadens verläuft der Tag ereignisarm. Viel Zeit zum Sinnieren.

Auf vdem Weg nach Wigry- Rast auf dem Feldweg

Auf dem Weg nach Wigry- Rast auf dem Feldweg

Am Abend bin ich auf dem schönsten Campingplatz, den ich in Polen kenne, direkt am Kloster.

Der schönste Campingplatz in Polen

Der schönste Campingplatz in Polen

Morgen ist Ruhetag.

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IV

10. Juni 2014

Warschau ist alt, ist neu, ist schnell, ist langsam… Warschau ist von allem etwas. Ich sehe überall noch die Spuren der kommunistischen Vergangenheit und spüre gleichzeitig den Hunger, westlich sein zu wollen. Moderne Wolkenkratzer neben Stalins Zuckerbäckerstil.

Clash of Cultures

Clash of Cultures

Verkehr, wie in jeder europäischen Großstadt. Ich weiß von Beginn an, dass sich mir diese Stadt an nur einem Tag nicht erschließen wird. Warschau braucht seine Zeit. Ich versuche mir die Stadt zu erlaufen, Eindrücke aufzusaugen, herauszufinden, ob sich ein Wiederkommen lohnt. Mehr kann man von einem Tag nicht erwarten.

Warschau, so wie wir es heute sehen, ist eine neue Stadt. Im Krieg komplett zerstört, wurde es mit unbändigem Ehrgeiz wieder aufgebaut. Ein Ehrgeiz, der mit dem Ende des Sozialismus noch einmal richtig angefacht wurde. Die Skyline könnte auch die von Frankfurt sein. Wolkenkratzer mit den allzu bekannten Logos. Zwischen ihnen, typisch Osten, bewachte Parkplätze mit windschiefen Bretterbuden für die Wächter. So etwas gibt’s nur östlich der Oder. Boulevards mit edlen Boutiquen und mittendrin ein fliegender Händler, der Kohlköpfe aus dem PKW heraus verkauft.

Der Dealer

Der Dealer

Dazwischen Patriotismus pur: Monumente für die Streitkräfte, religiös verbrämte Mahnwachen für abgestürzte Präsidenten und allgegenwärtig Jan Pawel II.

Die Menschen sind in Eile und scheinbar mit ihren Smartphones verwachsen, Speed, business as usual.

Nicht ohne mein Smartphone

Nicht ohne mein Smartphone

Und dann plötzlich, am Weichselufer, von einem Schritt auf den anderen, Ruhe. Die gleichen Menschen, die soeben noch ferngesteuert durch ihre Stadt gelaufen sind, sitzen im Liegestuhl am Flussufer, ein Bier in der Hand, und sind komplett abgebremst. Ich setze mich dazu, gucke auf den Fluss, lausche den Gesprächen, ohne sie zu verstehen und bin auf einmal euphorisch. Das Gefühl kommt auf, dass ich mich in Warschau wohlfühlen könnte.

Entschleunigt an der Weichsel

Entschleunigt an der Weichsel

Weiter in die Altstadt. Ein bauhistorisches Phänomen. Im Krieg durch die Deutschen total zerstört, wurde die Altstadt eins zu eins wieder aufgebaut. Sie ist praktisch neu und man sieht es ihr nicht an. Dagegen wirkt der Dresdner Neumarkt wie eine Modelleisenbahnanlage.

Neue Altstadt

Neue Altstadt

Ich bin einen ganzen Tag durch diese faszinierende Stadt gelaufen. Am Ende, physisch ausgelaugt, bleibt der Eindruck, die Oberfläche nicht einmal angekratzt zu haben. Die Stadt ist ein Moloch und hat das Potential zur Droge. Völlig erschöpft komme ich zurück auf den Zeltplatz.

Do widzenia Warszawa! Morgen geht es auf weiter auf meiner Reise auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk III

9. Juni 2014

„Sorry, I have no free places!“ Die Dame hinter dem Tresen guckt mich mitleidig an. Es war eine ziemlich harte Tour von  Częstochowa nach Warschau. Die Gegend südlich der Hauptstadt ist nicht gerade ein touristischer Hotspot. Schnurgerade Straßen in einförmiger Landschaft; die polnische Provinz. Und es ist heiß. Jeder Ampelstopp bringt mich zum Kochen, fast im wörtlichen Sinn. Man sitzt in der Kluft auf dem Motorrad, sieht die gemäß des Wetters gekleideten Damen und denkt sich so seinen Teil…Das einzige Highlight ist eine zum Restaurant umgebaute IL 18.

Zweitnutzung

Zweitnutzung

Kilometer fressen, sonst nichts. Ich hatte mir einen Campingplatz am Stadtrand von Warschau auf dem östlichen Weichselufer ausgesucht. Die Route dorthin sollte durch die Stadt gehen.

Warschau

Warschau

Hat sich als schlechte Idee erwiesen. Im Verkehrsgewühl verfahre ich mich und hab irgendwann komplett die Orientierung verloren. Einen richtigen Stadtplan habe ich natürlich nicht. In Richtung der Weichselbrücken nur noch Schrittgeschwindigkeit. Macht mit der URAL so richtig Spaß… Also noch mal 25 km in den Süden, in der Hoffnung, dass der Weichselübergang bei Gora Kalwaria einigermaßen passierbar ist. Gefühlte einhundert LKW-Fahrer hatten den gleichen Gedanken. Aber irgendwann bin ich drüben. Einen Stadtplan habe ich mir an der nächstbesten Tankstelle gekauft. Der Zeltplatz: vor meinem inneren Auge schon eine Dusche und ein kaltes Bier. Ich bin verdreckt, durchgeschwitzt und hungrig, kein Wunder nach fast dreihundert Kilometern auf der Landstraße. Aber die Dame lässt nicht mit sich handeln: no free places. Sie empfiehlt mir einen anderen Platz. Heißt aber nochmal quer durch die Stadt und wieder über den Fluss. Ich bin satt, aber was bleibt mir übrig. Warschau von seiner schönsten Seite: fünfspurige Straßen und alle Spuren belegt. Langsam habe ich Angst um’s Motorrad. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Schrittgeschwindigkeit für einen luftgekühlten Motor bei diesen Temperaturen gesund ist. Irgendwann bin ich da, und dann gibt’s auch das ersehnte „Kulturprogramm“…

Morgen ist Warschau dran.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk II

8. Juni 2014

Ich traue meinen Augen nicht: die Polen checken ihre Smartphones während des Gottesdienstes. Und singen trotzdem inbrünstig mit. Okay, es ist nur ein Einziger, den ich dabei beobachte, aber immerhin. Hätte ich hier nicht vermutet.

Ich habe heute früh die restlichen dreißig Kilometer nach Częstochowa (Tschenstochau) zurückgelegt, die ich gestern nicht mehr geschafft habe. Polen ist ein katholisches Land, das ist soweit nichts Neues aber  Częstochowa ist diesbezüglich ein Hotspot. Schließlich ist hier die Heimat der Schwarzen Mutter Gottes, einer polnischen Staatsreliquie. Die Schwarze Madonna soll im Laufe der Jahrhunderte Polen schon etliche Male aus misslichen Situationen befreit haben. Wahrscheinlich war das Gemälde ursprünglich mal eine byzantinische oder russische Ikone aber so genau weiß das heute niemand mehr.  Częstochowa ist jedenfalls ein Wallfahrtsort und entsprechend voll war es zu Pfingsten auch. Der Besuch von Jasna Gora, so heißt das Sanktuarium, muss einfach sein. Aber bevor man dort ist, kämpft man sich durch einen „Speckgürtel“ von Religionskirmes: Devotionalienhändler, ambulante Gastronomie, Bands.

Draht nach ganz oben

Draht nach ganz oben

Ich bin gewiss weit davon entfernt, in irgendeiner Art religiös zu sein aber der Wucht dieses Ortes kann ich mich schwer entziehen. Eine sakrale Pracht, die einen fast erschlägt. Mir wird bewusst, wie tief der katholische Glauben in der polnischen Gesellschaft verankert sein muss. Wenn man sieht, wie selbstverständlich Menschen allen Alters vor den Reliquien und Heiligenbildern knien, sich bekreuzigen, beten, dann ahnt man, wie eng die Verflechtung ist. Da ist nichts Gekünsteltes, es gehört hier einfach zum Leben. Okay, Smartphone checken ist dann auch noch drin aber wer wird denn kleinlich sein. Und Jan Pawel, wie der Heilige Vater a.D. hier genannt wird, ist allgegenwärtig. Verständlich, dass es der Kommunismus in Polen besonders schwer hatte.

Andacht

Andacht

Die Stadt selbst wirkt verloren, nicht sonderlich belebt. Mag auch daran liegen, dass Feiertag ist und die Temperaturen deutlich über dreißig Grad liegen.

Boulevard of Broken Dreams

Boulevard of Broken Dreams

Eine Kochshow auf offener Bühne mit einem Dutzend begeisterter Rentner als Zuschauer, jede Menge Imbissbuden – das war’s eigentlich. Ich laufe durch unbelebte Seitenstraßen, die in der Hitze wie erstarrt wirken. Vereinzelt sitzen Leute in den Hauseingängen, Hunde. Bröckelnde Fassaden konkurrieren mit greller Reklame kleiner Läden. Ein Bild, welches so typisch für den Osten ist. Das Leben wirkt irgendwie unbeschleunigt.

Eastern Sidestrip

Eastern Sidestrip

Morgen geht es weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk – erstmal nach Warschau. Bis jetzt macht die URAL keine Schwierigkeiten. Die Straßen sind gut. Hoffentlich bleibt es so.

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk I

7.Juni 2014

„It’s a good machine!“ Der Pole in seinem Skoda Oktavia hebt anerkennend den Daumen als er mich am Straßenrand kurz hinter Görlitz, oder vielmehr Zgorzelec, stehen sieht. Mit meiner URAL, einer russischen Seitenwagenmaschine, errege ich doch immer wieder Neugier. Das Fernweh hat mich wieder einmal gepackt und wie so oft zieht es mich unwiderstehlich in den Osten. Ich bin oft gefragt worden, wo meine Faszination herrührt, die die Gegend östlich der Neiße auf mich ausübt. Ich kann es nicht sagen. Aber immer wieder habe ich das Gefühl, in eine andere Welt abzugleiten, wenn ich diesen Fluss überschreite. Alles scheint hier anders zu sein, fremdartig. Ich bin wieder auf dem Weg. Wenn alles gut läuft, wird mich dieser Weg auf dem Motorrad bis nach Russland, von Dresden nach Murmansk, führen. Ich hoffe, dass die URAL durchhält und mir keine nennenswerten Probleme macht. Klar, der Beiwagen ist vollgepackt mit Werkzeug und Ersatzteilen. Aber wie das so ist, das, was man dabei hat, braucht an am Ende nicht.

Der Weg ist das Ziel. Kaum eine Formulierung klingt abgedroschener, finde ich. Und doch, die Landstraße fasziniert mich. Vorwärts,… die nächste Stadt, die nächste Grenze. Es ist zum Verrücktwerden. Dieses eigenartige Gefühl, die nächsten Wochen nicht mehr zu Hause zu sein, sondern jeden Tag woanders. Es beeindruckt und beunruhigt zugleich.

Schlesien, ein Land irgendwie dazwischen. Noch nicht ganz Osten und doch auch nicht mehr ganz Westen. Die Bauernhöfe, die alten Gebäude in den Städten, sie sind vom Baustil her vertraut. Dazwischen das, was den Osten ausmacht: die Reklame einen Tick greller, das Fehlen der westlichen Sterilität, wo alles seine Ordnung hat, die kleinen Läden, Menschen auf den Straßen, die Reduktion von Verkehrsregeln. Und die polnischen Frauen gehören zu den Schönsten, finde ich.

 

Irgendo in Polen

Irgendwo in Polen

Die URAL rollt. Jelenia Gora (Hirschberg) lasse ich hinter mir. Das Riesengebirge mit der Schneekoppe wirkt faszinierend. Weiter durch Städte wie Swidnica (Schweidnitz) und unzählige Dörfer, die voller Leben sind. In Opole (Oppeln) möchte ich die Tagesetappe beenden. Aber es ist irre, die Stadt ist voller Menschen und keine Chance, eine Unterkunft zu kriegen.

Weiter auf endlosen Landstraßen. Es wird dunkel und merklich kühler. Weiter,… Schließlich lande ich in Lubliniec. Ich nehme meine rudimentären Polnischkenntnisse zusammen und kriege tatsächlich ein Zimmer. Das Hotel ist ein grauer Zweckbau, wahrscheinlich noch aus sozialistischen Zeiten aber das Zimmer ist in Ordnung. Die Tageszeit (22:00) macht auch kompromissbereit.

Morgen geht’s weiter auf dem Motorrad  von Dresden nach Murmansk, erstmal nach Czestochowa (Tschenstochau). Berühmter polnischer Wallfahrtsort, mal sehen. Wird eine kurze Etappe.