Kategorie-Archiv: Reisen und Weltanschauung

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XIV

07.07. 2014

Ein Tag der vollkommenen Ruhe. Lesen, schwimmen, fotografieren, jenseits aller Hektik. So, als wäre es eine andere Welt. Sommer in Russland. Jeder Ehrgeiz, irgendetwas zu tun, erstirbt. Die wenigen Menschen, die zu sehen sind, machen auch keinen geschäftigen Eindruck. Der Duft des meistens ungehauenen Grases erfasst mich.

Ruhe

Ruhe

Hier gibt es keine richtigen Straßen, keine Geschäfte, keine Kneipen. Die Attraktionen heißen See und Wald. Das abgenutzte Wort entschleunigt kommt mir in den Sinn. Hier wird das Leben auf wenige Punkte reduziert. Ein Ort, der Eitelkeiten nicht zur Kenntnis nimmt. Der See bestimmt die Szene.

Der See ist die Mitte

Der See ist die Mitte

Sankt Petersburg ist weit weg und selbst Archangelsk erscheint im Rückblick wie eine brodelnde Metropole. Ich mache mir allerdings nichts vor. Es ist gut, hier den Augenblick zu genießen aber auch gut zu wissen, dass es ein Atem holen für meine reale Welt ist. Hier ist nicht die Welt, in der ich zu Hause bin. Ich schlendere durch den Tag. Morgen beginnt die letzte Etappe in Russland. Noch einmal neunhundert Kilometer bis Murmansk. Die Tage werden wieder länger. Der Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk geht langsam zu Ende.

Bilder zu Tipinitzy und Kishi unter diesem Link

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XIII

02.07.2014

Der Himmel wird immer dunkler und die Straße zumindest nicht besser. Ich bin irgendwo zwischen Archangelsk und Plesezk. Seit vielen Kilometern eine üble, unbefestigte Piste. Sogar die Russen fahren hier langsam und das ist ein echtes Indiz. Endlich ein Platz neben der Straße, an dem man bleiben kann. Blitze zucken und die Zeit bis zum einsetzenden Donner ist extrem kurz. Ich habe gerade das Zelt aufgebaut, da bricht es los. Ich flüchte mich erstmal unter die Brücke. Der Wind drückt das Zelt flach auf den Boden. Das war Timing! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, ich säße jetzt noch im Sattel. Nach fünfundvierzig Minuten ist der Spuk vorbei und es wird eine ruhige Nacht.

03.07.2014

Es klingt nicht gut. Und es fühlt sich noch schlechter an. Die URAL ist unwillig. Unrunder Lauf im oberen Drehzahlbereich, das Ding nimmt kein Gas an. Ich bin bedient. Erstmal Fehlersuche. Mein erster Gedanke gilt den Vergasern, da im Standbetrieb alles in Ordnung zu sein scheint. Also aufschrauben, Düsen reinigen, zusammensetzen. Leider bringt das nicht das gewünschte Resultat. Weiter, Zündung. Funkenprobe ist eigentlich gut, ich sollte mal über den Zündzeitpunkt nachdenken. Inzwischen haben sich zwei Zuschauer eingefunden. Ein russisches Pärchen, bei dem anregende Getränke Grundnahrungsmittel zu sein scheinen und Körperpflege offensichtlich nur ein sehr sporadisches Hobby ist. Normalerweise bin ich Gesprächen nicht abgeneigt, aber die Einladung dieser beiden zu sich Hause, anzunehmen, erscheint mir keine gute Idee. Ich erkläre es ihnen sehr deutlich. Sie lassen nicht locker. Ich komme hier zu gar nichts mehr. Genervt packe ich mein Zeug zusammen. Das verstehen die zwei völlig falsch. In Nullkommanichts hocken sie auf der URAL. Ich bin kurz davor, die Contenance zu verlieren und werde etwas lauter. Endlich begriffen! Nichts wie weg, obwohl ich den Fehler immer noch nicht gefunden habe. Ich rette mich mit der ruckelnden Maschine erstmal in den Ort, nach Plesezk.

Plessezk

Plessezk

Ich brauche einen Kreuzschraubenzieher, den ich nicht mit habe. Die einzigen beiden Kreuzschrauben am Vehikel sind die am Zündmodul unter der Abdeckkappe. Habe ich in Dresden nicht eine Sekunde drüber nachgedacht. Gottseidank gibt’s in Russland alles, womit sich Geld verdienen lässt, also auch Instrumenty, Werkzeug. Der passende Laden ist schnell gefunden und ich suche mir wieder ein Fleckchen, an dem ich ungestört basteln kann.

Straßenwerkstatt

Straßenwerkstatt

Und dann habe ich es. Ein simpler Wackelkontakt an der Zündspule. So halb dran und doch kein richtiger Kontakt. Es geht wieder weiter. Ich fahre noch 200 km entlang des Flusses Onega bis Kargopol. Die Stelle zum Zelten kenne ich ja bereits. Zum Glück schneit es diesmal nicht. Die Mücken freuen sich auch über das Wiedersehen.

04.07.2014

„Da, koneshno!“ Die alte Dame am Glockenturm nickt auf meine Frage, ob man das Bauwerk besichtigen dürfe. Gegen einen kleinen Obolus von sechzig Rubeln ist das kein Problem. Ich möchte wissen, ob Kargopol außer Schnee und Regen noch etwas zu bieten hat. Klar, ein alter Bekannter und die Kirchen, die mir beim letzten Mal aufgefallen sind.

Mobilfunkvertreter

Mobilfunkvertreter

Die enge Wendeltreppe im Turm bringt mich nach oben. Der Aufgang ist eindeutig nicht für Menschen in Motorradbekleidung gebaut worden. Der Ausblick entschädigt für die Mühen. Kargopol liegt wie auf einer Landkarte unter mir. Die Sicht auf die umliegenden Seen und Wälder ist umwerfend.

Kargopoler Aussichten

Kargopoler Aussichten

Kargopol ist eine der ältesten Städte Nordrusslands. Gegründet wurde der Ort wahrscheinlich um 1150. Lange Zeit eine bedeutende Handelsstadt, verlor Kargopol mit dem Bau der Eisenbahnstrecke Moskau-Archangelsk, die weit am Ort vorbeiführt, letztendlich seine Bedeutung. Übriggeblieben sind elf Kirchen in der traditionellen russischen Bauweise. Obwohl äußerlich renovierungsbedürftig, ist das Innere dieser Bauwerke beeindruckend. Eine riesige Wand voller Ikonen. Die Kunstwerke sind teilweise siebenhundert Jahre alt, wie mir die freundliche Dame am Eingang erklärt. Es ist eine eigenartig mystische Stimmung. Der Innenraum der Kirche ist in Dämmerlicht gehüllt und ich frage mich unwillkürlich, was die diese uralten Kunstwerke im Laufe der Zeit gesehen haben. Ikonen sind typisch für die russisch-orthodoxe Kirche und erscheinen mir wie aus einer anderen Welt.

Ikonen einer fernen Vergangenheit

Ikonen einer fernen Vergangenheit

In ihrer Abstraktheit wirken sie fesselnd und abweisend zugleich. Ich kann mich dem schwer entziehen und lasse es einfach auf mich wirken. Die Religion ist in Russland immer noch tief verwurzelt. Ähnlich wie in Polen sehe ich Menschen jeden Alters die Rituale vollziehen, angefangen vom selbstverständlichen Bekreuzigen beim Betreten und Verlassen der Gebäude. Und es sind auch Menschen, die ihre Ausbildung und Erziehung in sowjetischen Zeiten erhalten haben. Wie kann es sein, dass diese Religiosität nach sieben Jahrzehnten konsequenter Unterdrückung und Negierung wieder derartig auflebt? Oder haben wir im Westen auch hier ein falsches Bild? Ich denke, der Glauben wurde auch zu kommunistischen Zeiten nie völlig aufgegeben, auch wenn ihn viele Menschen aus nachvollziehbaren Gründen verleugneten. Wahrscheinlich haben auch Parteimitglieder insgeheim gebetet. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Und wieder habe ich das Gefühl, dass die kommunistische Zeit für dieses Land ein böser Spuk war, von dem es sich langsam erholt. Diese Erholung dürfte noch Jahrzehnte dauern. Ich verlasse die Kirche und mache mich wieder auf den Weg, den Weg auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Die Erzengel

Die Erzengel

Was mir jetzt bevorsteht, kenne ich von der Hinreise nach Archangelsk. Viele Kilometer unbefestigte Straßen, die ein Martyrium für URAL darstellen. Da müssen wir jetzt durch. Zum Glück hat es etwas geregnet. Das ist jetzt wirklich ein Glück, denn die leicht „angefeuchteten“ Pisten lassen sich besser fahren. Kein Staub mehr und die Bodenwellen sind etwas weicher.

Die Piste hinterlässt Spuren

Die Piste hinterlässt Spuren

Das Motorrad wechselt seine Farbe. Ich glaube, es war ursprünglich mal schwarz. Jetzt hat es so ein undefinierbares Grau. Irgendwann erreiche ich kurz vor Pudosh die Grenze der Republik Karelien, ein autonomes Gebiet innerhalb der Russischen Förderation. In Pudosh noch einmal tanken und dann geht es weiter in Richtung Medveshegorsk. Es ist schon spät und ich übernachte noch einmal bei meinen Lieblingstieren. Deutschland hat das Halbfinale erreicht, erfahre ich noch. Auch schön.

05.07.2013

Wie komme ich hier nur raus? Medveshegorsk gibt mir Rätsel auf. Die Ausschilderung ist sehr reduziert und ich muss die Straße nach Tipinitzy finden. Da will ich hin. Aber wo geht es aus Medveshegorsk raus? Ich sehe nur Schilder für Murmansk und Petrosavodsk. Nach drei Ehrenrunden in der Stadt tue ich das Naheliegende: ich frage. Und schon geht es weiter. Es ist doch manchmal so einfach. Tipinitzy liegt am Ende einer Halbinsel im Onegasee. Ich mache ich auf Unwegsamkeiten gefasst. Nichts dergleichen passiert erst einmal. Gute Straße, teilweise direkt am Ufer des Onegas entlang. Sehr schön. Im letzten Drittel wird es dann allerdings wie erwartet. Der Asphalt ist alle, wiede mal. Es geht auf den sattsam bekannten wilden Pisten weiter. Die karelische Landschaft, Dörfer ziehen vorbei, die manchmal etwas verloren aussehen.

Karelische Aussichten

Karelische Aussichten

Ich frage mich langsam, ob ich das im Internet gebuchte Gästehaus in Tipinitzy wohl vorfinden werde. Egal, das Problem, wenn es denn eines ist, wird sich vor Ort lösen lassen. Zwischendurch regnet es. Dann passiert wieder eine dieser Sachen, die man nicht für möglich hält. Fünfundzwanzig Kilometer vor dem geschätzten Ende der Welt überholt mich ein Volvo mit einem mit Baumaterial beladenen Anhänger. Der Fahrer hat offensichtlich Probleme mit seiner Ladung. Ich überhole noch zwei oder dreimal, wenn er das Zeug wieder neu befestigt. Bei einer dieser Begegnungen hebt er die Hand. Ich halte und wir kommen ins Gespräch. Ob ich nach Tipinitzy wollte? „Da!“ Ins Gästehaus? „Da!“ Es ist der Besitzer ebendieses Gästehauses. Er hätte sich schon gedacht, dass ich sein angekündigter Gast sei, denn soviele Motorräder mit deutschem Kennzeichen gibt es in dieser Gegend nicht. Nun ist mir erstmal die Sorge genommen, dieses Haus zu finden. Wir kämpfen uns gemeinsam weiter. Am Ziel angekommen, entpuppt sich Tipinitzy als typisch russisches Dorf, teils bewohnt, teils verfallen. Das Gästehaus allerdings ist eine Perle. Gemütlich, den Umständen entsprechend komfortabel.

Komfort pur

Komfort pur

Konstantin ist ein Fotograf aus Sankt Petersburg, der aber momentan nicht arbeitet, sondern hier draußen lebt und das Haus vermietet. Kurze Einweisung in alle Örtlichkeiten und dann wird die Banja angeheizt. Konstantin fragt mich noch, ob ich gesund genug für die russische Variante bin. Da mir keine Fehlfunktionen bekannt sind, kann es losgehen. Die russische Sauna, so wird mir erklärt, sei nicht so heiß wie die finnische aber dafür feuchter. Die übliche Massage mit Birkenzweigen gibt es natürlich auch. Zwischendurch Bier und gesalzenen Trockenfisch. Es ist nach den Tagen draußen eine Wohltat. Wir unterhalten uns noch so über dies und jenes. Er erklärt mir, der Anblick des Motorrades mit Beiwagen und deutschem Kennzeichen hätte bei ihm sofort Bilder aus Kriegsfilmen wachgerufen. Dieser Eindruck lag nicht in meiner Absicht aber so scheint es nun mal zu sein. Irgendwann falle ich ins Bett.

06.07.2014

Kischi. Das Museum auf einer Insel im Onegasee. Zu Konstantins touristischem Angebot gehören auch Bootsausflüge dorthin. Das Wetter ist ideal. Sonnenschein und kaum Wind. Wir fahren über einen spiegelglatten Onega. Wir reden weiter. Konstantin, der aus der Nähe von Odessa stammt, scheint sich für dieses einfache Leben hier draußen entschieden zu haben. Seine Familie lebt allerdings in Sankt Petersburg. Nur zeitweise sind seine Frau und seine zwei Kinder hier. Wovon denn die Leute hier leben, will ich noch wissen. Viele sind Pensionäre, erklärt er mir. Dazu kommen ein wenig Tourismus, der Anbau und Verkauf von Kartoffeln und dem, was der Wald so bietet. Beeren, Pilze und natürlich die Jagd. Es wäre allerdings eine sehr ernsthafte Entscheidung so hier leben zu wollen. Nach fünfundvierzig Minuten werden die Kirchen von Kischi am Ufer sichtbar. Was nun folgt, ist eine gigantische Show russischer Holzarchitektur. Es ist ähnlich wie in Malye Koreli, nur um ein vielfaches größer.

Kischi

Kischi

Die Insel ist ungefähr vier Kilometer lang und sehr angenehm gestaltet. Weit auseinandergezogen stehen dort Kirchen und Bauernhäuser aus verschiedenen Epochen und Gegenden. Es ist ein langer Spaziergang in einer wirklich schönen Umgebung. Kischi liegt in einer Bucht des Onega mit vielen Inseln. Man wandert durch die russische Geschichte. Die meisten der Gebäude wurden aus den umliegenden Gemeinden zusammengetragen und in Kischi seit den sechziger Jahren wieder restauriert. Anschaulich werden die Bauweise und auch die verwendeten Zimmermannstechniken erklärt. Aber auch hier liegt der Schatten Stalins. Die eigentliche Kirche Kischis war bis 1937 in Betrieb. Dann die übliche Geschichte. Der damalige Vorsteher wurde vom NKWD, den stalinistischen Sicherheitsorganen, verhaftet, erschossen und die Kirche, die Jahrhunderte existierte, geschlossen, Ende und Sowjetmacht. In Tipinitzy gibt es ein Denkmal für die hiesigen Opfer des Terrors der Jahre 1937 und 1938. Wir wandern mehrere Stunden über die Insel. Nach der Rückfahrt noch ein Bad im Onega, danach Erholung pur. Nochmal Kraft tanken für die letzte Etappe auf der Fahrt von Dresden nach Murmansk. Abendsonne und ein stilles russisches Dorf irgendwo ganz weit weg.

Das Dorf

Das Dorf

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XII

28. Juni

„Das ist Provinz!“ Ich habe noch Tatjanas Worte in Sankt Petersburg im Ohr. Nach Tagen auf der Landstraße freue ich mich auf Leben. Die Abgeschiedenheit dieses Landes hat mich mehr vereinnahmt, als ich vorher annahm. Das Zeitgefühl kommt aus dem Rhythmus. Der Tag zerteilt sich in Tankpausen, sonst nichts. Die Metropole erscheint als Oase. Archangelsk hat auch diese Ausstrahlung der östlichen Städte, die irgendwo zwischen der Vergangenheit und einer undefinierten Zukunft liegt. So, als müsste man zwischen Ost und West eine neue Himmelsrichtung erfinden. Aber anders als Sankt Petersburg, welches in einer Art Dauerlauf zu leben scheint, ist hier alles gelassener. Und dennoch alles andere als tot. Gelassener, wie mir scheint. Die Menschen, denen ich begegne, sind auf eine sympathische Art unaufgeregt. Die Bewegungen, die Gespräche, alles scheint eine Spur geruhsamer zu gehen als in Sankt Petersburg. Und es gibt sie noch, die Kwasverkäufer.

Auf der Strasse

Auf der Strasse

Ich mache mich auf den Weg, diesen Ort zu erkunden. Archangelsk hat seine Geschichte. Lange Zeit war der Ort der nördlichste Hafen von Bedeutung, den Russland hatte. Im Jahre 1584 gegründet, war es die Handelsmetropole jener Zeit in der der Region. Über Archangelsk liefen die ersten Kontakte des russischen Reiches unter Iwan, dem Schrecklichen nach England.

Das alte Archangelsk

Das alte Archangelsk

Englische Seefahrer strandeten 1553 in Archangelsk auf der Suche nach einer von Portugal unabhängigen Seepassage nach Indien. Die Seefahrt prägt das Stadtbild bis heute. Darstellungen von Schiffen sind allgegenwärtig. Auch die Denkmäler der Zeit der Interventionskriege 1918-1920, als Truppen der Entente in Archangelsk landeten, und die allgegenwärtigen Monumente des Zweiten Weltkriegs sind oft Seefahrern gewidmet.

Wir lieben Archangelsk

Wir lieben Archangelsk

Die Architektur der Stadt ist ein Querschnitt aus Stein und Holz durch die Jahrhunderte. Die alten russischen Holzhäuser stehen zwischen monströsen Betonblöcken der Sowjetzeit und der Einheitsarchitektur aus Stahl und Glas der Neuzeit.

Denk mal!

Denk mal!

Ein gewisser Herr Uljanow, bekannter unter seinem Künstlernamen Lenin, beherrscht den zentralen Platz der Stadt.

Der alte Mann

Der alte Mann

Und der vergangene Krieg ist auch hier sehr präsent. Doch Archangelsk lebt. Menschen sind unterwegs, erstaunlich viele junge Familien mit Kindern, im Habitus von ihren westeuropäischen Altersgenossen kaum zu unterscheiden. Skater teilen sich die Uferpromenade mit Radfahrern und Joggern, aus den Restaurants dröhnt der übliche russische Pop. Und über allem liegt eine eigenartige Gelassenheit. Selbst der Verkehr, der hier durch eine schier unendliche Zahl klappriger Busse eines Einheitstyps dominiert wird, scheint erträglich.

Rush Hour

Rush Hour

Die Stadt wirkt einladend. Eine Überraschung erlebe ich beim Einkauf. Die Alkoholabteilung ist abgesperrt. Ein Schild sagt mir, dass an diesem Wochenende jede Sorte von Alkohol nur zwischen zehn und dreizehn Uhr verkauft wird. Der Grund ist der Stadtgeburtstag, der an diesem Wochenende stattfinden soll. Noch ist davon nichts zu sehen. Ich genieße die Mitternachtssonne an der Uferpromenade.

Mitternacht an der Dvina

Mitternacht an der Dvina

29. Juni

Etwas liegt in der Luft. Eigentlich will ich heute ein Stück ins Umland fahren. Aber die Straße vor dem Hotel ist gesperrt. Menschen strömen Richtung Innenstadt. Musik ist zu hören. Keine Zeit für’s Umland, das kann warten. Heute ist die Party zum Stadtgeburtstag. Vierhundertdreißig Jahre Archangelsk und scheinbar ist der ganze Ort auf den Beinen. Gegenüber des Herrn Uljanow ist eine riesige Tribüne aufgebaut. Ich lasse mich mittreiben. Und komme genau zum richtigen Zeitpunkt. Auf der Tribüne werden die Feierlichkeiten offiziell eröffnet. Die Führung der Stadt hält Reden. Der Bürgermeister, die örtliche Duma-Abgeordnete, der Oberhirte, Gäste aus Partnerstädten.

Mit dem Segen von ganz oben

Mit dem Segen von ganz oben

Emden ist die Partnerstadt von Archangelsk, wer hätte das gedacht. Zum Glück fassen sich alle kurz und dann kann es losgehen. Tanzdarbietungen, wie man sie in ihren Dimensionen wahrscheinlich nur im Osten kennt. Die Stadt Archangelsk und ihre Geschichte sind das Thema. Historische Figuren wie Iwan, der Schreckliche und Katharina, die Große betreten die Bühne. Die Geschichte der Stadt rollt musikalisch über die Bühne. Der Platz ist voll. Auf der Uferpromenade ein anderes Bild. Hier laufen die alternativen Darbietungen. Straßenmusiker spielen zwischen Schaschlykständen. Und hier ist wieder Osten. Die Menschen jeden Alters bleiben bei den Gitarrenspielern stehen und singen mit.

Die alernative Party an der Dvina

Die alternative Party an der Dvina

Strassenmusik in Archangelsk, russische Lagerfeuerromatik, Lieder von Aufbruch und Unterwegssein. Offensichtlich sehr populär hier. Der perfekte Tag, auch das Wetter spielt mit. Auffällig ist allerdings, dass oft aus Papiertüten getrunken wird… Offensichtliche Opfer dieser Tüten sehe ich allerdings erstaunlich wenige. Zurück zum Herrn Uljanow. Auf der Bühne läuft das russische Folkloreprogramm. Der traditionelle Gesang der Frauenchöre und halsbrecherische Tanzdarbietungen der Herren. Und auch hier wird im Publikum mitgesungen und getanzt. Der Platz ist voll. Familien lagern mit Picknickkörben im Gras. Hin und wieder blitzt der Nationalstolz auf.

Flagge zeigen

Flagge zeigen

Dann das Konzert, der Abschluss. Die russische Band DDT spielt und wieder zeigt die Reaktion der Umstehenden, dass die Jungs ziemlich populär sind. Gute Texte, soweit ich sie verstehe. (siehe den Link)

Der Tag geht zu Ende.

30. Juni

Es kracht. Nichts weiter passiert, der Busfahrer hat den Gang eingelegt. Scheint auch keine Ungeschicklichkeit gewesen zu sein. Das Geräusch ist einfach an jeder Bushaltestelle zu hören. Ich will raus- und zwar in’s Umland. Malye Koreli ist das Ziel. Ein Freilichtmuseum, das einen Querschnitt durch vier Jahrhunderte russischer Holzarchitektur verspricht. Also los. Die Dinger sehen außen so abenteuerlich aus wie drinnen.

Öffentlicher Nahverkehr

Öffentlicher Nahverkehr

Die Fahrt im Vehikel kostet in der Stadt in der Stadt achtzehn Rubel, egal wie weit man fährt. Das sind ungefähr vierzig Cent. Die Fahrt zum Museum kostet mich einen Euro. Es ist ein Fest für die Wirbelsäule. Die Straßen passen hervorragend zur digitalen Federung des Fahrzeuges. Die Russen nehmen es gar nicht wahr. Irgendwann sind wir da.

Bus Stop im Nirgendwo

Bus Stop im Nirgendwo

Ich bezahle meine einhundert Rubel Eintritt und bin drin. Ein erstaunliches Museum, welches schon 1964 gegründet wurde. Aus umliegenden Dörfern wurden alte Häuser und Kirchen zusammengetragen und in einem herrlichen Waldareal rekonstruiert. Nach einer Weile fühlt man sich in die Vergangenheit versetzt. Unwillkürlich fallen mir die russischen Märchenfilme ein und es würde mich nicht wundern, käme die Baba-Jaga auf dem Besen um die Ecke.

Hier wohnen Mascha und der Bär

Hier wohnen Mascha und der Bär

Dazu tragen sicher auch die Frauen bei, die die zugänglichen Gebäude in traditionellen Trachten erklären. Allerdings kam ich da schnell an die Grenzen meiner Russischkenntnisse. Und trotzdem, es war einfach schön. Ein Tag zum dahinmeditieren. Tut gut…

Abtauchen

Abtauchen

 

Zurück mit dem allerliebsten Autobus. Die Schaffnerin, ja, die fahren in jedem Fahrzeug mit, ist allerdings sowjetisch. Nur das notwendigste reden und möglichst im Befehlston. Aber derartige Umgangstöne sterben auch hier langsam aus. Die Leute, auch in den Geschäften, sind im Allgemeinen sehr freundlich und hilfsbereit. Die Sowjetzeit wächst sich langsam raus. Ich schlendere noch so durch die Stadt besorge mir noch was zu essen und sehe zu, wie die Fußballer für hohe EKG-Werte sorgen. Morgen werde ich mich den weiteren Verlauf der Reise kümmern. Es geht weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Nach Archangelsk zu fahren, war eine gute Entscheidung. Poka!

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk XI

22. Juni

Wassili meint es gut, es gibt Kascha. Das war wohl unvermeidlich. Wir kommen ins Gespräch. Er spricht deutsch, ich versuche russisch zu antworten. Es geht irgendwie. Wir reden über die Arbeit, die Familie. Einer seiner Cousins war nach dem Krieg kurzzeitig Stadtkommandant von Bad Schandau. Wassili ist klein, dünn mit Vollbart, irgendwie so, wie man sich einen alten Professor vorstellt. Er kennt Deutschland und auch Dresden. Er ist Designer, auch für Möbel und Inneneinrichtungen. Die Hellerauer Werkstätten sind ihm ein Begriff. Und natürlich kommen wir auf die Ukraine zu sprechen. Das Dilemma ist tief. Wassili ist ganz offensichtlich keiner dieser lautstarken Patrioten, für die ein fast siebzig Jahre zurückliegender Sieg der Mittelpunkt ihrer kleinen Welt ist. Die Krim ist in seinen Augen russisch und der Anschluss folgerichtig. Er scheint weit entfernt von irgendeinem nationalistischen Taumel, den Medien und Politik in Russland sehen und den es zweifellos gibt. Wenn Menschen wie er dies so sehen, dann ist der Weg aus dieser Krise wohl noch schwerer als gedacht. Ich denke an das Gespräch mit Andreijs in Lettland. Der Graben zwischen Russland und dem Rest der Welt, selbst zu den ehemaligen Sowjetrepubliken, ist tief. Hier hat sich in den stalinistischen Jahren ein paralleles Universum entwickelt. Die Jahrzehntelange Abschottung mit paranoiden Zügen hat ihre Spuren hinterlassen. Russland hat noch einen weiten Weg vor sich. Ich hätte dieses Gespräch gern noch fortgesetzt aber die Zeit drängt. Ich will los. Denis ruft noch mal an. Kirill und er wollen mich auf ihren Motorrädern durch die Stadt begleiten. Zwei russische und eine „deutsche“ URAL, ein interessantes Bild.

Eskorte- Kirill und Denis

Eskorte- Kirill und Denis

Ich brauche mir keine Gedanken über die Navigation zu machen und kann die Fahrt an der Newa entlang noch einmal so richtig genießen, zumal Sonntag ist und der Verkehr erträglich. Am Stadtrand, an der Murmansker Chaussee verabschieden wir uns. Vor mir liegen fünf Tage Fahrt durch ein unbekanntes Land. Am nächsten Freitag möchte ich in Archangelsk sein. Mir ist etwas beklommen zumute. Ja, ich verstehe und spreche ein wenig Russisch und ich bin nicht zum ersten Mal in diesem Land. Und dennoch bin ich innerlich angespannt. Es ist nicht Deutschland, wo man vielleicht mal zwei Stunden auf den ADAC warten muss und wo die Polizei meist kooperativ ist. Passiert hier etwas Unvorhergesehenes muss man sich etwas einfallen lassen. Und das Wort Entfernung wird hier auf „fern“ betont. Die beiden Russen hauen mir noch mal auf die Schulter und weiter geht’s auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk, wenn auch mit einem kleinen Umweg. Ich komme erstmal gut voran, die Straßen sind sehr brauchbar und das Tankstellennetz ist ausreichend. Dann biege ich von der M18, die nach Murmansk führt ab. Ich möchte ja erstmal nach Archangelsk. Das Bild ändert sich. Der Verkehr hört fast auf und die Straßen verschlechtern sich von Kilometer zu Kilometer.

Russian Outback

Russian Outback

Es ist dieses Gebiet zwischen Ladogasee und Onegasee. Hin und wieder ein kleines Dorf, ansonsten Wald. Auch der Mobilfunkempfang ist dürftig. Hier ist also das russische Outback. Man kann sich wirklich verlieren. Und trotz seiner Abgeschiedenheit war das Gebiet im Krieg umkämpft. Denkmäler zeigen den damaligen Frontverlauf und erinnern an die Blockade Leningrads, die schätzungsweise eine Million zivile Opfer gefordert hat. Irgendwann spät abends schlage ich mein Zelt unweit der Straße auf und arrangiere mich mit den Mücken.

Allein unter Mücken

Allein unter Mücken

23. Juni

Auf einmal ist die Straße weg. Soeben habe ich noch das Schild in Richtung Vytegra gesehen und plötzlich liegt vor mir nur noch ein Feldweg. Glücklicherweise stehen ein Mann und eine Frau am Straßenrand. Auf meine Frage, ob das denn der Weg nach Vytegra sei, nicken sie. Der Mann erklärt mir noch, dass es nur neunzig Kilometer wären. Jetzt bin ich wahrscheinlich endgültig in Russland.

Lost Runway in Russia

Lost Runway in Russia

Es geht los. Tiefe Löcher wechseln sich mit kurzen, harten Bodenwellen ab. Ich fahre Slalom und meine Geschwindigkeit ist zeitweise nicht schneller als 20 km/h. Der dritte und der vierte Gang haben heute frei. Hin und und wieder überholen mich einheimische Fahrzeuge aller Größen. Es scheint doch eine offizielle Straße zu sein. Nach solchen Begegnungen sehe durch den Staub minutenlang nichts. Zum Glück ist das Wetter noch gut. Ich stelle mir vor, es würde auch noch regnen. Unwillkürlich denke ich an die Schilderungen diverser Armeen der Vergangenheit, die an den russischen Straßenverhältnissen gescheitert sind. Ich quäle mich vorwärts durch den Wald. Immer mal schaue ich nach, ob noch alle Teile dran sind.

Lost Runway in Russia II

Lost Runway in Russia II

Überraschend sind für mich die Dörfer. Als Stätten des Verfalls hatte ich sie in Erinnerung, trostlos und heruntergekommen. Das scheint hier nicht so zu sein. Klar, die Holzhäuser sind immer noch windschief auch die freilaufenden Hunde gibt’s immer noch. Aber es scheint mehr Leben in den Häusern zu sein, mehr Farbe an den Wänden und gepflegte Vorgärten. Und es gibt Menschen auf den Straßen, intakte Läden. Irgendwann in Pudosh entscheide ich mich für einen der kleinen Läden am Straßenrand, Café genannt. Schnell, schmackhaft und nicht teuer, so lautet die Reklame. Von außen oft abweisend und unwirtlich sind sie drinnen sehr annehmbar, wenn auch schlicht, in ihrer Einrichtung. Für sehr wenig Geld kann man hier russisch essen: Soljanka, Borschtsch, Fisch, Schaschlyk, Blini, die Auswahl ist gut.

Verpflegungsstützpunkt

Verpflegungsstützpunkt

Die Bedienung ist schnell und für russische Verhältnisse überaus freundlich. Ich entscheide mich für Fisch. Es geht weiter auf der Buckelpiste bis zum Nachtlager bei Kargopol. Die Waldeinfahrten bei Kargopol sind videoüberwacht. Der Grund ist die unsägliche russische Angewohnheit, Müll in die Natur zu kippen. Es ist wirklich eine Seuche. Nun stehen hier Videokameras und Tafeln, die Geldstrafen androhen. Die aufgeführten Zahlen sind beeindruckend. Ich baue mein Zelt auf und räume erstmal ein altes Lada-Teil beiseite. In der Nacht beginnt es zu regnen.

24. Juni

Das Geräusch ist anders. Ich bin gestern eingeschlafen, als der Regen auf das Zelt hämmerte. Es klingt nicht mehr so. Ich traue meinen Augen nicht. Es schneit.

Ski und Rodel gut

Ski und Rodel gut

Über Nacht sind die Temperaturen gefallen und wird mir wieder klar, dass ich in Karelien bin. Ich beschließe im Bett zu bleiben. Lebensmittel und Lesestoff sind zur Genüge da und hier im Wald belästigt mich niemand. Schlafen, Essen und Lesen. Nur schade, dass es keinen Kamin gibt.

25. Juni

Ob ich denn wirklich aus Deutschland mit dem Motorrad gekommen wäre? Der ältere Herr in Kargopol kann es kaum glauben. Eine typische Begegnung. Die URAL mit deutschem Kennzeichen erregt Aufmerksamkeit. Die nächste Frage lautet fast immer: „Warum nicht BMW?“ Meine Standardantwort: „Zu teuer!“ Damit geben sich die meisten zufrieden. Kargopol, inmitten von Wald. Eine russische Provinzstadt mit Holzhäusern zwischen sozialistischen Betonbauten, schlechten Straßen, Kirchen und einer großen Zahl unterschiedlichster Geschäfte. Der Handel scheint zu blühen, es sind zahlreiche Menschen auf der Straße. Die Kirchen sind beeindruckend.

Russland- Deine Kirchen

Russland- Deine Kirchen

Ein russischer Bekannter zu Hause hatte mir diese Gegend, Karelien, empfohlen. Weder die Deutschen im Krieg noch die Kommunisten hätten hier viel zerstört. Russland wäre hier noch ursprünglich. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie diese sakralen Bauten die sozialistische Zeit überstanden haben. Ein wenig verfallen, aber sie sind da. Einträchtig neben den Denkmälern aus Sowjetzeiten. Städte wie Kargopol wirken wenig einladend. Man hier trotz der bunten Reklametafeln und des regen Handels das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Es erscheint alles so weit weg von unserer Welt. Das Wetter ist immer noch schlecht.

Kargopol Downtown

Kargopol Downtown

Weiter auf schlechten Straßen. Abends habe ich die M8 erreicht, die Moskau mit Archangelsk verbindet. Eine weitere Nacht im Wald.

26. Juni

Ereignisarm-eine Fahrt durch unendliche Wälder. Wieder Nachtlager draußen. Es regnet immer noch.

27.Juni

Es ist, als wäre ich nach einer langen Fahrt über’s Meer auf einem anderen Kontinent gelandet. Archangelsk kündigt sich an. Am Straßenrand eine riesige Statue des Erzengels Michael, der der Stadt seinen Namen gab.

Michail

Michail

Es ist wie in einem Märchen. Schon zehn Kilometer vor Archangelsk sehe ich die goldenen Kuppeln der Kathedrale in der Sonne, die sich nun auch endlich blicken lässt. Es kommt mir vor, als wäre ich ewig unterwegs gewesen. Die Stadt empfängt mich offen und freundlich. Ein Gefühl des Ankommens erfüllt mich. Die Vorfreude auf den Luxus einer Dusche und eines Bettes nimmt mich gefangen. Es war eine lange Reise von Sankt Petersburg hierher und ich konnte mich manchmal des Gefühls der Verlorenheit in diesem riesigen Land nicht erwehren. Die Landstraße gibt mich wieder frei. Ich bin da!

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk X

20. Juni

„Good Luck“, und es ist offensichtlich nicht hämisch gemeint. Okay, die Jungs sind nicht gerade die Archetypen der Idealschwiegersöhne, aber sie geben erstmal Auskunft. Ich habe mich in einen Vorort von Sankt Petersburg aufgemacht, um die Reparaturmöglichkeiten für’s Motorrad auszuloten. Nur für den Fall, dass… MOTODEPO heißt der Laden, den ich im Internet ausfindig gemacht habe. Eine Hinterhofwerkstatt, bevölkert von ziemlich schrägen Typen. Nein, URAL geht gar nicht. Der Grund? Es gibt schlicht keine Teile. Hat sich also nichts geändert im Vergleich zu 2008. Sie gucken ein wenig reserviert und ratlos, als ich meine Reisepläne erzähle. „Good Luck!“ Hmm… Also erstmal Fehlanzeige. Abends kriege ich plötzlich noch eine Mail. Denis aus Sankt Petersburg meldet sich. Es gibt sie also doch noch, die russischen URAL-Fahrer. Ich hatte die URAL-Vertriebsorganisation für Europa, die sitzt in Österreich, angeschrieben, ob es irgendwelche Kontakte hier in Sankt Petersburg gibt. Freundlicherweise gab’s den Draht zum besagten URAL-Kollegen. Kurzes Telefonat, eine Stunde später sitzen wir uns in der Bar gegenüber. Gesprächsstoff? Kein Problem, gibt’s sofort. Gut, jemanden zu kennen, den man im Falle eines Falles anrufen kann. Denis, ein dreißigjähriger Elektroingenieur, verspricht mir zu helfen, wo es geht, wenn der unerwünschte Fall eintreten sollte. Er ist der Meinung, URAL-Fahrer seien eben ein wenig anders. Könnte er Recht haben… Wir quatschen- russisch und englisch durcheinander, wahrscheinlich ziemlich laut. Plötzlich steht eine Frau vom Nebentisch auf und kommt rüber. Sie hätte unser Gespräch nicht überhören können, sagt sie. Jetzt gibt’s den Anpfiff, denke ich. Weit gefehlt! Sie hatte aufgeschnappt, dass ich mit dem Motorrad aus Deutschland gekommen bin. Unglaublich, ob ich das noch mal bestätigen könnte. Klar kann ich. Sie ist der Meinung, dass wäre umwerfend und geht wieder an ihren Tisch. Sachen gibt’s…Später kommt noch Denis‘ Kumpel Kirill dazu und gegen Mitternacht sind die beiden der Meinung, dass man noch einen Stadtrundgang machen müsse.

Newski at Night

Newski at Night

Damit hier keine falschen Vorstellungen aufkommen, es war kein Saufgelage…

Wir ziehen los und geraten in einen Tsunami. Heute ist die offizielle Feier der Petersburger Schulabgänger. Heute fließt die Newa andersrum.

Kirill mit Winkelement

Kirill mit Winkelement

Der Newski-Prospekt ist seit dem Nachmittag für Autos gesperrt und eine gigantische Partymeile. In Sankt Petersburg ist heute schlafen verboten. Denis und Kirill wollen zum Winterpalast. Seit Tagen wurde dort an einer riesigen Bühne geschraubt. Überall johlende, singende, tanzende Menschen. Überraschend wenig Methanolgeschädigte. Wir treiben so mit und Denis versucht mir noch Sehenswürdigkeiten zu erklären. Verlorene Mühe. Allerdings schaffen wir es nicht, bis zur Bühne vorzudringen. Der Platz vorm Winterpalais ist weiträumig abgesperrt und die Jungs mit den Tellermützen lassen wirklich nur Schulabgänger durch, wahrscheinlich, um die Party im Rahmen zu halten. Wir können irgendwie nicht glaubhaft machen, heute die Schule beendet zu haben, obwohl ich mich am Morgen rasiert habe. Nun denn, trotzdem gute Stimmung. Gegen drei verabschieden wir uns dann. Bin total breit. Wir werden in Kontakt bleiben.

21. Juni

Wassili ist der Meinung, dass ich Kraft brauche. Wassili ist Professor an der hiesigen Kunsthochschule und mein Vermieter. Außerdem hat sich herausgestellt, dass er den Klotzscher Wasserturm kennt. Ausgerechnet mitten in Sankt Petersburg trifft man jemand, der schon mal in Klotzsche und Hellerau war. Nun ja… Kraft also… Es gibt Kascha, die berühmte Buchweizengrütze. Ich gucke erstmal begeistert. Ökologischer Anbau wird mir noch gesagt. So, so…

Kascha aus ökologischem Anbau

Kascha aus ökologischem Anbau

Ganz ehrlich: es ist nicht ganz mein Ding. Aber ich esse tapfer auf. Heute ist mein letzter Tag an der Newa. Ich bin noch so ein wenig wacklig von gestern. Kirill ruft nochmal an, vielleicht treffen wir uns Morgen vor der Abfahrt nochmal. Heute sind Reisevorbereitungen angesagt. Motorrad durchsehen, Ölstände prüfen, Schrauben festziehen. Mir fällt nichts Besorgniserregendes auf. Morgen geht’s in den Wald. Auf dem Weg nach Murmansk ist ein kleiner Abstecher nach Archangelsk geplant. Eintausenddreihundert Kilometer, am nächsten Freitag soll es vollbracht sein. Ab in die Wildnis. Schon auf der Karte sieht’s sehr abgeschieden aus. Nu, budjet. Wenn das Motorrad läuft und die Tellermützen nicht zu sehr die Hand aufhalten, ist es bequem zu schaffen- Ladogasee, Onegasee, Wald, Wald und dazwischen wahrscheinlich Bäume. Wird Zeit, dass ich aus der Stadt rauskomme. Waren aufregende Tage aber die Stadt vereinnahmt und fordert. Schnell, laut, mitreißend. Ruhe ist selten.

Nun denn, ab Morgen gilt es. Abends noch Abschied von der Newa. Weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.

Poka, Newa!

Poka, Newa!

Internet gibt’s dann in Archangelsk wieder.

 

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk IX

18. Juni

Die Stadt springt mich an. Mein Quartier ist in Sichtweite des Newski-Prospektes. Das Epizentrum. Die ruhigen baltischen Tage sind plötzlich nur noch eine Erinnerung. Hier steppt der Bär, und zwar der russische. Oder vielleicht doch nicht dieser, denn diese Stadt ist auf den zweiten Blick anders. Anders als die russischen Städte, die ich kenne, selbst anders als Moskau.

Summer in Piter

Summer in Piter

Schon der Baustil spricht eine eigene Sprache. Russischer Klassizismus. Sankt Petersburg atmet Geschichte und Kultur, es vibriert. Ich werde mir auch diese Stadt erlaufen, wie Częstochowa, wie Warschau. Was als erstes auffällt, sind die unzähligen Anbieter von Bootstouren durch die Kanäle der Stadt Peters, des Ersten. Sehr deutlich werden die Passanten per Lautsprecher geworben, doch bitte eines der Boote zu besteigen. Ich könnte mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen, ich wüsste sofort, wann ich eine der vielen Kanalbrücken überquere. Patriotische Busse kreuzen meinen Weg.

Danke für den Sieg!

Danke für den Sieg!

Ich lasse mich durch die unüberschaubare Menschenmenge treiben, ohne Ziel. Ein Torbogen, der mir vage bekannt vorkommt. In unzähligen Filmen über die Oktoberrevolution schon gesehen. Ich durchquere ihn, und stehe plötzlich auf einem riesigen Platz. Vor mir der Winterpalast, ein Hotspot der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die unser Leben über Jahrzehnte so sehr geprägt hat.

Winterpalast

Winterpalast

Hier nahm eine Geschichte ihren Anfang, die wahrscheinlich hoffnungsvoll begann und im blutigen Albtraum des Stalinismus endete um letztendlich bankrott die Bühne wieder zu verlassen. Ich kann mich der historischen Wirkung dieses Platzes nicht richtig entziehen. Was wäre geschehen, wenn dieser legendäre Sturm auf das Winterpalais, der zum Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung, die den Zar abgelöst hatte, führte, missglückt wäre? Wie wäre es weitergegangen?

Alexandersäule

Alexandersäule

Heute ist dieser Platz ein touristisches Highlight in Sankt Petersburg, oder Sankt Peterburg, wie es in Russland offiziell heißt, oder Piter, wie es die Leute hier nennen. Fotografierende Menschen, Skateboarder, Radfahrer. Apropos, Radfahrer- so viele wie hier hab ich in noch keiner russischen Stadt gesehen.

Shooting

Shooting

Kein Unterschied zu westeuropäischen Metropolen. Und unübersehbar die Staatsmacht, Polizei und sogar OMON-Leute, die Truppe für’s Grobe des russischen Innenministeriums. Weiter geht es… Die Admiralität, auch ein Begriff aus der Revolutionshistorie. Glückliche Brautpaare im Park, relaxte Menschen auf den Parkbänken. Auffallend ist, dass es keine alkoholaffinen Problembürger und keine Bettler gibt. Alles ist sauber, aufgeräumt, geordnet. Hier wurde wohl ein Mikrokosmos für Besucher geschaffen. Übrigens, was den Polen ihr Smartphone ist, scheint den Russen ihr Tablet, oder Planchett, wie es hier genannt wird, zu sein. Allenthalben Menschen, die es vor sich hertragen und damit fotografieren.

Nicht ohne mein...

Nicht ohne mein…

In der Peter-Pauls –Festung finden öffentliche Exerzierübungen von Kursanten, sprich Offiziersschülern, statt. Erinnerungen überkommen mich ( :–) ) und mir tun die Jungs ein wenig leid, die hier dem Gaudi der Touristen dienen. Aber vielleicht sehen sie es selbst auch ganz anders. Und auch hier gibt es urplötzlich diese ruhigen Ecken, wo man kurz durchatmen kann.

Am Ufer

Am Ufer

Weiter zur „Aurora“, auch ein früheres Heiligtum. Sie liegt vertäut an einem Seitenarm der Newa. Der Liegeplatz zeigt einmal mehr, wie grandios eine Idee scheitern kann. Umgeben von Symbolen des faulenden und sterbenden Kapitalismus ist das Schiff eine Touristenattraktion von vielen.

Der Sieg...

Der Sieg…

Mehr Sankt Petersburg schaffe ich dann doch nicht mehr. Die Hermitage hebe ich mir für Morgen auf. Diese Stadt stellt Anforderungen. Der Abend klingt in einem der unzähligen Cafes aus.

19. Juni

Erstmal umziehen. Ich muss nochmal das Quartier wechseln, wenn auch nur einen Hauseingang weiter. Tatjana verwickelt mich in ein längeres Gespräch über das Leben in Sankt Petersburg. Sie ist zwar Rentnerin aber, wie sie sagt, noch nicht zu alt zum Arbeiten. Außerdem sind die russischen Renten wohl nicht so üppig. Das Gespräch führt mich an die Grenzen meiner Russischkenntnisse, manchmal auch darüber hinaus. Sie ist, nach ihren Worten, ein Mensch der Sowjetzeit. Ja, klar konnte man kaum in’s Ausland fahren und klar gab es dieses und jenes nicht. Man hat gelebt, in einer Stadt, die auch zu Sowjetzeiten etwas Besonderes war. Leningrad war keine Provinz. Der Stolz auf die Kultur und die Geschichte „ihrer“ Stadt ist nicht zu überhören. Historische Plätze, an denen Dichter wie Puschkin und Gogol arbeiteten, direkt vor der Tür zu haben, das gehört auch einer Lebensqualität. Und Kultur gab’s zu Sowjetzeiten meistens umsonst, besplatno, oder für kleines Geld.

Ich ziehe also ins Nebenhaus, in eine Wohnung, die durchaus auch in der Dresdner Neustadt sein könnte. Ein älteres Ehepaar vermietet hier ein Zimmer.

Übernachtung

Übernachtung

Die übliche Stahltürenprozedur, dann wieder los, in die Menge. Heute soll es die Hermitage sein. Lange Schlangen vor den Ticketschaltern. Ich probiere mein Glück an einem der Ticketautomaten, die draußen stehen. Offensichtlich habe ich das Kleingedruckte wieder nicht richtig gelesen. Der Automat spuckt zwei Karten aus. Und jetzt? Auch kein Problem, ich verkaufe das zusätzliche Ticket kurzerhand an ein russisches Paar, welches gerade den Nebenautomaten bearbeitet. Der Handel geht über die Bühne, vierhundert Rubel und ein Ticket wechseln den Besitzer. Dann die Hermitage. Es erschlägt mich geradezu. Kultur und Kunst im XXL-Format. Und wieder Menschen über Menschen, was den Kunstgenuss etwas schmälert. Besonders die Gemälde, die Porträts, haben es mir angetan. Es ist, als ob mich lebendige Menschen anblicken. Die Ausstellung über das Leben am Zarenhof des 19. Jahrhunderts fasziniert mich. Was für eine Pracht und welcher Luxus! Wenn ich bedenke, dass der russische Bauer zu dieser Zeit kaum dem Mittelalter entkommen war, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts hier einen ihrer Ausgangspunkte hatten. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde in Russland erst im Jahre 1861 offiziell abgeschafft.

Nach drei Stunden kann ich nicht mehr. Raus an die Luft! Ich möchte unbedingt den Smolny sehen, meine letzte Station auf der Reise in die revolutionäre Vergangenheit. Das Gebäude liegt doch etwas abseits. Auf dem Weg dahin laufe ich durch Gegenden, die dann doch nicht zu den touristischen Highlights gehören. Es wird ruhiger und auch die Restaurierung der Gebäude wird hier und da noch etwas dauern. Es wird, für meine Begriffe, russischer. Es ist irgendwie schwer zu beschreiben aber russische Städte haben so ein Fluidum, welches ich im Zentrum von Sankt Petersburg nicht so richtig ausmachen kann. Eine Mischung aus Morbidität und Geschäftstüchtigkeit, schwer zu sagen.

Der Smolny an sich ist nicht so gigantisch. Ein normales Verwaltungsgebäude im klassizistischen Stil inmitten einer Parkanlage. Aber die Fahrbahn heißt hier tatsächlich Straße der Diktatur des Proletariats, Marx und Engels gucken streng von ihren Sockeln und zentral vor dem Gebäude die Statue eines gewissen Gospodin Uljanow alias Wladimir Iljytsch, der in irgendeine lichte Zukunft weist.

Die Zentrale

Die Zentrale

Hier war also die Kommandozentrale. Und wieder kommt mir in den Sinn, was die Ereignisse, die im Jahre 1917 hier stattfanden, ausgelöst haben. Welche Verheißungen gemacht wurden und in welchem Elend es dann endete. Es regnet, ich mache mich auf den Rückweg.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VIII

17. Juni

„Marka?“ kommt es etwas unwirsch aus dem Schalterhäuschen, in dem eine sehr attraktive Vertreterin des russischen Zolls sitzt. Ich versuche grade die estnisch-russische Grenze in Narva zu überwinden, die EU-Außengrenze sozusagen. Sie will für die Zollerklärung den Typ des Motorrades wissen.

„Ural!“. Ihr Blick sagt irgendwas in der Richtung: hör auf mich zu veralbern, Kleiner! Ich bekräftige meine Aussage mit meinem schönsten Lächeln und einem deutlichen „Da!“ Damit entlocke ich doch einer russischen Amtsdame ein freundliches Grinsen. Wenn das kein guter Auftakt ist…. Ansonsten kann man da auf und niederhüpfen, um eine emotionale Regung zu provozieren. Sie will noch wissen, ob die Maschine tatsächlich funktioniert und guckt entschieden ungläubig. Na ja, zum Abschied ernte ich ein sehr freundliches „bye-bye“ und bin durch. Wieder mal in Russland. Weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Und wieder einmal regnet es. Ich mache mich auf schlechte Straßen und mindestens zwei Polizeikontrollen bis Sankt Petersburg  gefasst, eine Erfahrung meiner Tour in den Ural vor sechs Jahren. Nichts dergleichen passiert. Super Straße, die Staatsmacht ist präsent, nimmt aber keinerlei Notiz von mir. Und es ist bitter kalt. Sankt Petersburg empfängt mich mit einem anständigen Stau. Hatte ich erwartet. Und diese Stadt ist riesig. Lange fahre ich durch die betonierten Vororte, die so typisch sind für östliche Städte. Die Ausschilderung ist perfekt. Irgendwann bin ich auf dem Newski Prospekt. Es regnet. Ich bin hundemüde. Und es ist kalt. Eine Dusche, ein Bett und vielleicht ein Bier. Soweit kann man Wünsche reduzieren. Ich irre noch ein wenig zwischen den Kanälen rum, um das Quartier zu finden. Drei Telefonate mit dem Vermieter zur Lokalisierung und dann bin ich da. Tatjana, die überaus fürsorgliche Herbergsmutter, steht schon im Regen auf der Straße und winkt mich in die richtige Toreinfahrt. Petersburger Hinterhof, alles mit Ketten und Stahltüren gesichert, hmmm….mal sehen.

Die Ural steht sicher...

Die Ural steht sicher…

Aber die Unterkunft ist top. Das ist mir schon bei meiner ersten Tour aufgefallen. Man darf sich von den Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen. Sobald man die zweite Stahltür passiert hat, ist man in einer anderen Welt. Zimmer, Küche, Dusche, alles bestens. Schnell noch im Tante-Emma-Laden das Abendbrot einkaufen und dann ist es erstmal gut. Mittlerweile Mitternacht- am nächsten Tag geht’s weiter. Budjet…

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VII

14. Juni

„Yes, it’s okay!“ Diesen Satz werde ich an diesem Abend von Andrejs noch öfter hören. Ich bin gestrandet- vorerst. Es regnet seit gestern.

Herrliches Wetter im Baltikum

Herrliches Wetter im Baltikum

Immer wieder starke Schauer. Dazu teilweise sehr seltsame Straßen.

Russian Runway in Litauen

Russian Runway in Litauen

Die letzte Nacht habe ich im Zelt auf einer Wiese verbracht. Eigentlich völlig in Ordnung, wenn das Wetter etwas besser wäre.

Outside Camping

Outside Camping

Kann man sich nicht aussuchen. Und kurz hinter Riga passiert es. Nach einer kurzen Pause am Straßenrand verweigert die URAL die Kooperation, ohne jede Vorwarnung. Nicht mal die Ladekontrolllampe spielt noch mit, keinerlei Saft. Und nun? Dass gar nichts geht, gibt mir allerdings ein wenig Hoffnung, die Ursache schnell zu finden. Ich beginne: Batterie ok, Sicherungen ok, keine sichtbaren Kabelbeschädigungen, auch ok. Beim Zündschloss werde ich fündig. Simpel gesagt, ein Wackelkontakt. Ich beginne schicksalsergeben, das Teil auseinander zu nehmen. Wenn mir eine dieser winzigen Federn und Kugeln runterfällt, habe ich ein richtiges Problem. Und es regnet. Nach einer Weile habe ich es tatsächlich gesäubert und wieder zusammengebaut. Na, mal sehen. Ja, sie springt an. Zusammenpacken und weiter. Nach fünf Kilometern Ernüchterung. Das gleiche Problem. Es ist mittlerweile 21:00. Zum Verzweifeln. Dass es immer noch regnet, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Dann überholt mich ein Kleintransporter und verschwindet hinter mir im Wald. Ich sehe plötzlich dieses Werbeschild eines Quadverleihes, einhundert Meter entfernt. Ich klopfe dort an die Scheibe, schildere mein Problem und bitte darum, das Motorrad unterstellen und vielleicht sogar die Nacht hier verbringen zu dürfen. „Yes, it’s okay!“ Vorerst gerettet. Andrejs, so heißt der Besitzer des Ladens, kocht mir erstmal einen Kaffee und stellt mir seine kleine Werkstatt samt Inventar zur Verfügung. Das Motorrad könne hierbleiben, bis ich eine Lösung gefunden habe. „Yes, it’s okay!“ Ich bin erstmal unsäglich erleichtert und beginne, das Problem nochmal unter Werkstattbedingungen zu untersuchen. Schnell habe ich rausgefunden, wie ich die URAL unter Umständen kurzschließen könnte, damit ich erstmal weiterkomme. Britta schickt mir von zu Hause per Mail den Schaltplan, an Andrejs Adresse. „Yes, it’s okay!“ Es ist unglaublich.

Neben meinem Gebastel reden wir russisch und englisch noch über Gott und die Welt, über russische Motorräder, die Ukraine und manches andere. Interessant, die Meinung eines Letten zur Ukrainekrise zu hören. Ja, sie fühlen sich von Russland tatsächlich bedroht. Auf meine Antwort, dass sie ja durch die NATO Mitgliedschaft geschützt sind, guckt er ziemlich skeptisch. Russische Medien lügen, dies ist seine feste Überzeugung. Die Russen in Lettland sieht er erstaunlich differenziert. Keine prinzipielle Ablehnung, er habe auch russische Freunde. Russisch rede er aber nur mit denen, die bereit sind, sich zu integrieren und auch lettisch zu lernen. Inzwischen ist es 23:00. Andrejs will nach Hause und ich richte mir mein Nachtlager auf der Partyterasse ein. Strom und Wasser sind da. Erstmal soweit alles gut. Morgen sehen wir weiter.

Nachtasyl

Nachtasyl

15. Juni

Andrejs taucht gegen 11:00 mit Kaffee und Frühstück für mich auf. Inzwischen habe ich mir den Zündschalter nochmal näher angesehen und glaube, die Ursache gefunden zu haben. Eine Stück verschmortes Plastik auf einem winzigen Kontakt. Muss ich gestern wohl übersehen haben. Abkratzen, zusammenbauen, Schlüssel rein- und es läuft! Wieder reisefertig und auch ein wenig stolz, das Problem gelöst zu haben :-). Zumal das Mysterium der russischen Fahrzeugelektrik dadurch mich etwas durchschaubarer geworden ist.

Andrejs

Andrejs

Ich verabschiede mich von Andrejs und gegen 13:30 bin ich zurück im Spiel. Danke, Andrejs!

Die rettende Werkstatt

Die rettende Werkstatt

Was jetzt kommt, ist Genussmotorradfahren in Vollendung. Leere, gut ausgebaute Straßen, herrliche Wald- und Wiesenlandschaft und ein Wetter wie aus dem Intershop.

Tartu taucht auf und ich entscheide mich mal für ein Hotel. Es waren bei allem Ärger zwei sehr interessante Tage. Wieder mal die alte Regel, dass es in der Krise spannend wird. Morgen geht’s weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk. Erstmal in die Nähe der russischen Grenze, um den Sprung nach Sankt Petersburg zu schaffen.

Auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk VI

12. Juni

Stille. Das ist das erste, was mir nach dem Aufwachen auffällt. Nach den hektischen Tagen von Częstochowa und Warschau erlebe ich wahrscheinlich gerade ein Paralleluniversum. Der Campingplatz liegt im Wigierski Park Narodowy. Vorsaison, kaum Leute da- einfach himmlisch. Seen, Wälder und direkt über dem See ragt das ehemalige Kloster des Kamaldulenserordens auf. Die Glocken läuten und früh und abends dringt vom Glockenturm ein getragenes Trompetensolo.

Wigry-Klosterkirche

Wigry-Klosterkirche

Zum Schreien schön. Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Dieser Ort zieht mich magisch an. Hier fällt alles ab. Stress und Hektik sind Fremdworte. Verharren in einen seltsamen Schwebezustand.

Wigry- das kloster und der See

Wigry- das Kloster und der See

So ein Tag könnte ruhig ein paar mehr als nur vierundzwanzig Stunden haben. Motorradfahren vermisse ich nicht so richtig. Jan Pawel ist allerdings auch hier.

Jan Pawel II

Jan Pawel II

Ich besichtige die Gemächer, welche er während seines Besuches in Wigry bewohnte. Die Intensität, mit der dieser Papst dieses Land durchdringt, ist unvorstellbar. Er ist allgegenwärtig. Anders kann man es nicht sagen. Er muss den kommunistischen Machthabern wie eine Geißel gewesen sein. Du sollst keinen anderen Generalsekretär haben neben mir… das ging in Polen wohl nicht.

Ich schlendere so durch den Tag und bin abends etwas wehmütig. Schade, ich hätte Polen gern mehr Zeit auf meiner Reise eingeräumt. Habe aber am 17. Juni einen Termin in Sankt Petersburg. Also weiter auf dem Motorrad von Dresden nach Murmansk.